Berlin – Schlachthof der Stadtplanung

Serie: Der Verkehr und die Zerstörung der Stadt (erster Teil)/ Berlin, der Ort der größten und dichtesten Nichtplanung/ Bei vier Millionen Einwohnern kann es nicht mehr um große Würfe gehen, sondern um die kleinteilige Reparatur  ■ Von Hans-Joachim Rieseberg

Berlin ist zwei Jahre nach der sogenannten deutsch-deutschen Vereinigung ein Ort von fast hektischen Planungsaktivitäten geworden. Berlin ist ein Schlachthof der Stadtplanung, auf dem die Akteure den gewachsenen Stadtvierteln die Köpfe abhacken, die Herzen herausschneiden, die Lungen verpflanzen und die Blutbahnen verstopfen. Als Betäubungsmittel werden Stadtforen, Diskussionsveranstaltungen, Diskussionen in allen Medien und Versprechungen für alle auf eine bessere Zukunft eingesetzt. Und, wie Menschen nun einmal sind, sie geben sich den Betäubungsmitteln hin, sie machen mit, sie glauben immer noch, was Politik ihnen verspricht. Und was wurde in Berlin nicht alles schon versprochen: Zwei Weltkriege sollten hier gewonnen, das sozialistische Paradies auf Erden errichtet werden, die Verkehrsprobleme sollten durch das Automobil, und durch den Abriß ganzer Stadtviertel die Wohnungsprobleme gelöst werden, die grüne Gartenstadt sollte erbaut und die Hinterhöfe sollten beseitigt werden – kurz gesagt, Berlin war schon immer ein Ort der großartigen Versprechungen, der mittelmäßigen Ausführung und der Flucht in eine Vergangenheit, die es stadtplanerisch so nie gegeben hat.

Denken von gestern

Am Stadtgrundriß Berlins läßt sich noch immer deutlich das Wesen der Stadtplanung im 19. Jahrhundert ablesen. Damals konnte Hobrecht innerhalb von kürzester Zeit, ohne sich um seine Bürger wesentlich kümmern zu müssen, einen Plan in der Funktion als Polizeipräsident erlassen. Er schuf überschaubare Planungsbereiche, behandelte aber die Menschen in der Stadt wie Untertanen und dachte sich ihr Glück für sie stellvertretend aus. Dabei kam eine Lösung heraus, die aus heutiger Sicht noch nicht einmal so schlecht ist: die Blockrandbebauung, die Berliner Traufhöhe, die relativ breiten Straßen, ehemals als Lafetten-Durchfahrbreite gedacht, dann aber gut für die Belüftung der Stadt, und eine Aufteilung der Stadt in mehrere Unterstädte, die eine Dezentralisierung ermöglichen. Das Ganze konnte aber nur funktionieren, weil der Bewohner des 19.Jahrhunderts seßhaft war. Die Stadt war trotz ihrer kulturellen Vielfalt Ort der Ruhe und der Innerlichkeit. Ruhe war nicht nur die erste Bürgerpflicht als Untertan, sondern es war die Bürgertugend des 19. Jahrhunderts. In dieser Stadt entstand die Berliner Mischung, die größte Mietskaserne der Welt. In ihr entwickelte sich der soziale Sprengstoff, der am Ende zur Entladung kam, in ihr fand die soziale Ausbeutung der Hälfte der Bewohner statt, und am Ende des 19. Jahrhunderts hatten die Stadtplaner die Aufgabe, die sie brauchten, um die Stadt umzubauen. Sie hatten sich ihre eigenen Aufgaben geschaffen und konnten nun an die großen Aufräumarbeiten gehen.

Während dieser Aufräumarbeiten, nämlich der Beseitigung des sozialen Unrechts, der Durchlüftung der Hinterhöfe und der sozialen Befreiung der Proletarier, schufen sie wissentlich oder unwissentlich die neuen Probleme des 20.Jahrhunderts. Es entstand ein neuer Bewohnertypus. Der Untertan wurde abgeschafft oder befreite sich, und die Mobilität entwickelte sich. Der Stadtbewohner mutierte vom Arbeiter über den Angestellten zum Konsumenten. Neben dem Wohnen wurde die Bewegung zum Lebensinhalt des Einwohners: Wohnen, Arbeiten, Freizeit, Verwaltung, Industrie, Dienstleistung waren die Koordinatenpunkte, zwischen denen das Leben sich entwickelte, und diese Eckpunkte wurden verbunden durch Verkehr. Das Ganze brachte die Dynamisierung der Stadtplanung. Das Statische wurde abgelöst durch das Dynamische, feste Koordinatensysteme entwickelten sich zu chaotischen Strukturen, kurz, moderne Stadtplanung ist im Grunde Verkehrsplanung. Gebäude, Plätze, Grünanlagen sind Inseln in einem dynamischen Gesamtsystem. Sie geraten immer mehr zu Versatzstücken, und die Stadtplanung selbst hat dies alles nicht bemerkt und tut so, als ob sie noch in einem statischen System plane. Dabei verkommt sie immer mehr zu einer Unterhaltungsshow. Volker Hassemer verkörpert dies als Rudi Carrell der Stadtplanung. Die Inszenierung wird von einem Senatsbaudirektor gemacht, der sich wie Hobrecht vorkommt, und der Verkehrssenator verhält sich wie ein Schupo der fünfziger Jahre, der den Autos durch eine Kelle freie Fahrt verschafft, freie Fahrt dort, wo eigentlich gar kein Platz mehr für ein dynamisches Makrosystem ist, wie es zwischenzeitlich der motorisierte Individualverkehr geworden ist. Hier findet scheinbar täglich das „Spiel ohne Grenzen“ statt, die „Volker-Hassemer-Show“ oder „Die versteckte Kamera“ von Herwig Haase.

Die sogenannten hochkarätigen Architekten bauen die Kulissen für eine Papparchitektur, und vier Millionen Einwohner machen im Augenblick mit, weil das Ganze immer noch einen ungeheuren Spaß bringt und weil die Ernsthaftigkeit des Tuns nicht gesehen wird. Der Stadtmensch von heute ist nur noch ein gebändigter Nomade, einer, der die Seßhaftigkeit des 19. Jahrhunderts abstreifen will, ein Raubtier in einem Stadtzoo, der in seiner 2- bis 4-Zimmerwohnung auf Beute gehen will. Er paart die Schnelligkeit des Geparden mit der Flugfähigkeit des Adlers, der Mentalität des Maulwurfs und den Fähigkeiten des Stinktiers. Er tut sich zu Tausenden zusammen und entwickelt damit die Kräfte eines Dinosauriers. Als einzelner seiner Gattung ist er liebenswürdig, apart, interessant oder bestenfalls exotisch. Vier Millionen zusammengeballt, müssen zwangsläufig die Ahnung von einer Stadthölle aufkommen lassen. Über eine solche Ansammlung von Neurotikern – so bilden sich immer noch moderne Stadtplaner ein – kann man herrschen, sie kann man verplanen, man kann ihnen Ordnung beibringen, sie in geregelte Bahnen lenken, ihnen Plätze zuweisen und sie trotzdem ab und zu zu Hunderttausenden versammeln und an einem riesigen Sportereignis teilnehmen lassen.

Jeder von diesen vier Millionen Zwangsneurotikern startet fast jeden Morgen zu seiner 20-km-Ralley, entweder mit dem eigenen Auto, mit dem Fahrrad oder mit der U-Bahn und der S-Bahn. Auf kleinstem Raum fahren sie über- und untereinander und entwickeln ein ungeheuer komplexes, undefinierbares Gesamtsystem. Die Stadtplanung entwickelte sich noch zu einer Zeit, als naturwissenschaftlich gesehen ganz einfache Ursache-Wirkung-Prinzipien galten. Inzwischen hat Einstein die Relativitätstheorie entwickelt, und selbst diese wird in Teilen durch die Chaostheorie der modernen Physik in absehbarer Zeit abgelöst werden. Die Stadtplanung beschäftigt sich im Grunde immer noch mit den statischen Systemen von Goethe und Newton. Wir wissen inzwischen, daß der Flügelschlag eines Schmetterlings das Wetter beeinflussen kann, und zwar global, wir könnten wissen, daß fünf Enten auf der Stadtautobahn den Verkehr bis nach New York lahmlegen können, aber wir ziehen eigentlich daraus überhaupt keine Konsequenzen. Niemand bezweifelt mehr ernsthaft, daß in den nächsten 50 Jahren allein die Verstädterung auf dieser Erde das Klima entscheidend verändern wird, und trotzdem tun Stadtplaner heute so, als ob sie Ordnung in statische Gebäudefunktionen bringen müssen.

Wirkungsmechanismus eines chaotischen Systems

Alle gehen noch mehr oder weniger von der schweigenden Mehrheit aus, und der eine, der gegen einen neuen Tunnel im Tiergarten ist, ist eine Quantité negligeable. Stadtplanung heute ist der Versuch, vier Millionen, zehn Millionen oder im Extremfall 30 Millionen Menschen – wie im Fall Mexico City – durch statische Systeme, das heißt Gebäude für die Ewigkeit, auf Zeit zur Staffage einer Idee zu machen. Und so etwas nennt man zum Beispiel Hauptstadtplanung. Dagegen muß heute die Stadt als ein Ort höchster Mobilität akzeptiert und die Reparatur als immanentes Element eines neuen Systems begriffen werden. Wenn also einer heute sagt, wir schaffen in den nächsten 25 Jahren die Stadt des nächsten Jahrhunderts, dann ist das ein gigantischer Unsinn. Entweder weiß er es nicht anders, oder aber, er sagt es wider besseres Wissen. Stadtplanung im Sinne einer dynamischen Verkehrsplanung kann gar nicht mehr die großen Würfe und Entwürfe bringen, sondern nur die kleinteilige Reparatur. Alles andere geht an der Realität vorbei, auch wenn es immer wieder in den bürgerlichen Zeitungen verkündet wird.

Bei vier Millionen Beteiligten kann es zwangsläufig keine großen Würfe mehr geben, und selbst wenn man alle möglichen Gesetze erläßt, um 3,9 Millionen dieser vier Millionen zu Unbeteiligten zu deklarieren, es wird erstens nicht gelingen, und zweitens reichen allein diese hunderttausend aus, um jeden großen Wurf zu einem kleinteiligen Stadtplanungskompromiß verkommen zu lassen. Wenn man erst einmal versucht, diese Wirkungsmechanismen eines chaotischen Systems in der Realität zu verstehen, dann wird man auch nicht mehr versuchen, mit Methoden des 19. Jahrhunderts auf es einzuwirken. Auch das Höhnen über die sogenannten Bezirksfürsten, die Baustadträte in den Bezirken, und vieles andere mehr werden dann als das deutlich, was es wirklich ist: das Lamentieren über eine Realität, die mit Mitteln des 19. Jahrhunderts feudalistisch gelöst werden soll. Wir leben in einer individualisierten Massengesellschaft, in der der einzelne maximale Beteiligungsrechte hat und in der die Lösungen scheinbar nur noch provisorisch sind. Das Dynamische wird aus der Sicht des 19. Jahrhunderts provisorisch gesehen, in Wirklichkeit ist es immer die jeweils gültige Lösung auf Zeit. Es darf auch keiner Generation mehr zugemutet werden, sich 25 Jahre einer zwanghaften Lösung zu unterwerfen, nur damit die nachfolgende Generation es besser hat. Die Versprechungen dieser Art sind niemals eingelöst worden, also gibt es auch keine Bereitschaft mehr, sich einer solchen Tortur zu unterwerfen. Konkret gewendet auf Berlin: Wer heute diesen vier Millionen Bewohnern verschweigt, daß er ihre Stadt 25 Jahre lang in eine Baustelle verwandeln will, nur damit die nachfolgende Generation es besser hat, belügt die Leute, denn zum einen wird die nachfolgende Generation diese Lösungen nicht mehr wollen, und zum anderen ist es nicht einsichtig, warum die jetzige Generation so etwas ertragen soll, weil ja sowieso keine endgültigen Lösungen herauskommen. Genau von diesen Grundsätzen ist aber die derzeitige Stadtplanung geprägt. Es werden also gar keine endgültigen Lösungen gefordert, sondern nur noch Provisorien im besten Sinne des Wortes.

Die nächste Folge der Serie erscheint in einer Woche.

Diplom-Ingenieur Hans-Joachim Rieseberg ist Mathematiker, Architekt, Stadt- und Verkehrsplaner sowie Autor mehrerer Bücher.