Warten auf die tätigen Töchter

■ Eine Antwort auf Antje Vollmer, ("Eine vaterlose Partei: Die SPD nach dem Tod Willy Brandts", taz vom 17.10.92)

Eine Antwort auf Antje Vollmer („Eine vaterlose Partei: Die SPD nach dem Tod Willy Brandts“, taz vom 17.10.92)

Verehrte Antje Vollmer, mit Ihrer scharfsinnigen Analyse der psychologischen Dimension der Bedeutung Willy Brandts für die SPD haben Sie hoffentlich die vermeintlichen EnkelInnen endlich um ihre Ruhe der beschränkten Verantwortung und Haftung gebracht. Sie drängen sie alle zu dem, was diese GenossInnen in den mittleren Jahren immer schon waren: Söhne und Töchter.

Großväter haben bekanntlich unverdient unkomplizierte Nähe zu ihren Enkeln; der Generationensprung entschärft die Konflikte, welche die aufeinander folgenden Generationen natürlicherweise miteinander auszutragen haben. Die durch die Alltäglichkeiten einer grundsätzlichen Entwicklung oftmals geschüttelte Eltern- Kind-Realität wird hier ersetzt durch Milde, Strenge und Weisheit des Alters, das versöhnlich und nachsichtig gegenüber den Schwankungen zwischen Ernsthaftigkeit und Beliebigkeit der Enkel sein kann.

Nun: Das ist vorbei. Durch Willy Brandts Tod werden die EnkelInnen zu Söhnen und Töchtern, mit allen realen Konsequenzen. Darauf sind sie nicht vorbereitet, haben insgeheim sogar die Großvater-Enkel-Beziehung bevorzugt...

Aber kann es da genügen, daß eine der klügsten Töchter unter ihnen allen stets lesens- und beherzigenswerte Analysen macht? Daß sie ein Tragödien-Szenario skizziert, zugleich selber, wie die kritisierten EnkelInnen, ins brillant Folgenlose und Unverbindliche flüchtet? Ich hätte erwartet, daß von Ihnen für all die, die nach Shakespearscher Manier vor einem unausweichlichen Scheitern stehen, ein perspektivisches Drama 92, nicht Realsatire oder Posse, inszeniert würde – oder ist es zu pragmatisch–glanzlos, „auf der Höhe der Zeit zu sein und seine eigene Antwort zu geben“, wie Großvater Brandt es zuletzt noch einmal gefordert hat?

Hier hätte sich auch noch die entlastende und wahrhaft demokratische Reflexion anschließen können, daß nun nicht mehr die Zeit der einen und ganzen und allseitig kompetenten Persönlichkeit ist, sondern Führung auf viele Schultern mit unterschiedlichen Talenten – und Schwächen – verteilt ist. Zudem würde die Gefahr der Verführbarkeit und Abhängigkeit von einer einzigen Idealgestalt verringert, auch das macht Demokratie aus.

Obendrein: Suchen wir denn nach neuen Vätern, und wo bleiben die Mütter? Heißt nicht die übergeordnete Forderung „Autorität“, gleich welchen Geschlechts? Müßte nicht gerade Antje Vollmer das Vaterpostulat bezweifeln, die doch Grüne und Frauenbewegung zur Genüge kennt? Atmet es nicht konservativen Geist, wenn das Verschwinden der Nachkriegsväter im „Kästchen in der hinteren Ecke des Zimmers“ fast nur bemängelt wird, anstatt die umfassende und bedeutende Präsenz der (Trümmer-)Frauen zu betonen?

Wohl braucht das Land neue Väter, aber die neuen Mütter sind schon lange da, wurden seinerzeit zurückgeschickt ins Heim und werden nicht einmal erwähnt als Spur, die es aufzunehmen gälte! Der Verdacht bleibt also nicht aus, daß es zu alltäglich, vielleicht sogar nicht opportun sein könnte, Namen zu nennen und in einer Real- Phantasie Aufgaben für all die zu umreißen, die solche doch offensichtlich haben wollen.

Aber ich will dem keinen Glauben schenken müssen, daß auch Antje Vollmer nur das Pendant zur Edelfeder Enzensberger (FAZ 10.10.92) ist. Nur wird die Antwort nicht beim Italiener formuliert, sondern beim indischen Vegetarier etwa, mit Biowein. Worin liegt der wirkungsvolle Unterschied? Wach wird der von Ihnen, Frau Vollmer, treffend beschriebene „liebenswerte und weltoffene Spießer“ so nicht, nur nochmals blendend unterhalten.

Ich erführe, in Andeutungen wenigstens, gerne, ob Antje Vollmer vielleicht doch als Tochter bereits längst nicht nur enkelinnenhaft schreibt, sondern vor Ort wirkt, anders als die von ihr gerügten „Toskana-Sensiblen“. Wenn's so ist: Sie sollten es uns nicht vorenthalten, schon um für Ihre Person die Kritik abzuwehren, die Sie an den genannten EnkelInnen üben. Ihre Phantasie muß auch nicht an Amtsgrenzen haltmachen: 1994 wäre die Villa Hammerschmidt nicht nur, wie Sie vorschlagen, für Enzensberger frei, auch für Sie, und das viel dringender. Denn noch nie hat hier eine Frau residiert.

Der „Ernst, der in die Politik zurückkehrt“, so schrieben Sie, muß ernst machen mit der Praxis, dem täglichen Wie und Wer. Zu den aufgerufenen Spitzenleuten der SPD, „die nun mit Führungsaufgaben betraut werden müssen“, sollten Sie sich selber rechnen und melden. Das wäre töchterliche Selbstgewißheit, die nach und nach zu elterlicher (=autoritätsbereiter) Verantwortung heranwächst. Denn da sind die Töchter und Söhne längst angekommen.

Liebe Antje Vollmer, ich bin gespannt, ob der Tod von Willy Brandt Sie zu Äußerungen über eigene politische Aktivität, jeweils nach der unerläßlichen Analyse, bewegen wird. Auch Antje Vollmers Entwicklung von der reflektierenden Enkelin zur tätigen Tochter ist gefragt. Ursula Viebig, Hamburg