Nur Standbilder

■ Über Alexis Weissenbergs Musical „Nostalgie“

Darmstadts Opernbühne hat eine kleine und in der Tiefe stufenlos bewegbare Drehbühne, daß die Ereignisse auf ihr dadurch tief und bewegt werden, ist allerdings nicht gesagt. Eines jedoch steht seit neuestem fest: Sie taugt zum Laufsteg für Pariser Modehäuser, und auch ansonsten läßt sie sich ohne Umstände zur Sponsorenwerbung herrichten. Vieles hat Platz auf ihr, von der Auto- über die Computer- bis hin zur Haarkosmetikindustrie. Daß es so ist, könnte am allseits bekannten Geldmangel der Theater liegen, in Darmstadt und Umgebung ist jedoch an jeder Hauswand und jedem Bauzaun zu sehen, wozu das für die Uraufführung von Alexis Weissenbergs Musical „Nostalgie“ acquirierte Sponsorengeld verbraucht wurde.

Selten, daß eines der bundesdeutschen Stadt- und Staatstheater so großflächig für eines seiner Produkte werben konnte (selbst die Plakatwände des nahegelegenen Frankfurt sind gepflastert), selten aber auch, daß Werbeaufwand und Produkt ein derartiges Qualitätsgefälle aufweisen. „Cats“ und das „Phantom der Oper“ standen Pate, in Darmstadt hat das staatlich geschützte Theater einen ersten Versuch unternommen, auf privatwirtschaftlichem Niveau zu landen. Ein Großsponsor der subventionierten Produktplazierung baut Computer, also sind auf der Drehbühne überdurchschnittlich häufig Festplattentürme und Bildschirme zu sehen. Im Libretto des Musicals finden sich zwar keinerlei Anhaltspunkte für Derartiges (mit etwas Mühe hätte sich bestimmt noch ein Song einbauen lassen, in dem es um den Chip an sich geht), trotzdem wandelt der Tenor Jeffrey Dowd als etwas älterer Herr zwischen den Computern und hat ein Problem, das nicht nur ältere Herren haben. Er brennt für eine Frau, bei der es leider nichts zu löschen gibt.

Dabei steht er so unscheinbar da, daß wir kaum glauben können, sein Kordanzug sei aus eben jenem Pariser Modehaus, während Sona Mac Donald als Objekt der altväterlichen Begierde mehr aus sich macht und in den Gesangspartien durchaus Esprit in Alexis Weissenbergs nicht endende chromatische Dissonanzreihung bringt. Kein allzu leichtes Unterfangen, da der weltbekannte Pianist sein Musical für zwei Klaviere so komponierte, daß die Dissonanz völlig ihre Funktion verliert. Geschickt eingesetzt, kann sie ein Mittel zur Spannungserzeugung sein, in „Nostalgie“ jedoch wird das Ohr durch die Wiederholung des Immergleichen schon nach kurzer Zeit ruhiggestellt, während sich das Auge damit abfindet, daß Weissenbergs chromatische Fingerübungen nicht dazu taugen, einem Bühnengeschehen in die Startlöcher zu verhelfen.

Und dabei will man vom Schwierigsten erzählen: von der Liebe und von der Reise in die Zeit und in die Phantasie. Laut Francis Lacombrades Buch wird Harold auf seiner Suche nach dem Ewigweiblichen in Vergangenheit und Zukunft versetzt, zu den Zeitsprüngen allerdings fiel Alexis Weissenberg musikalisch gar nichts mehr ein. Regisseur Helfrid Foron, der fürs Fernsehen arbeitete und sich dabei ambitioniert mit Beckett auseinandersetzte, sah wahrscheinlich keine andere Möglichkeit, als Standbilder zu inszenieren. Warum er sich überhaupt auf das Musical einließ, ist eine andere Frage.

Zustande kam das Ganze durch Peter Girth, der in der Ära Karajan die Finanzen der Berliner Philharmoniker regelte, seit einiger Zeit aber Intendant des Darmstädter Staatstheaters ist. Aus seinen Berliner Tagen kennt er Alexis Weissenberg, dessen Musical allerdings kam schon einmal auf die Bühne. In Paris war's, nach zwei Aufführungen jedoch wurde es abgesetzt. Da man lediglich einen Bruchteil von Weissenbergs Komposition verwendete, distanziert sich der Pianist heute von dieser Inszenierung, für ihn hat „Nostalgie“ erst in Darmstadt das Licht der Welt erblickt. Die Geburtswehen währen denn auch nahezu drei Stunden, bis Harolds Sohn am Ende singen darf: „Was lange dauert, muß nicht gut sein.“ Recht hat er da wohl schon. Jürgen Berger

Alexis Weissenberg: „Nostalgie“. Regie: Helfrid Foron. Bühne: Marc Deggeller. Kostüme: Nina Ricci. Klavier: Hyunsoon Whang und Thomas Labe. Mit Sona Mac Donald, Jeffrey Dowd, Jana Werner, Sivia Hanisch, Markus Liske. Staatstheater Darmstadt.