„Frische Luft in den Gedanken“

Die RAF rechtfertigt in einem Papier die früheren Anschläge und erläutert die Vorstellung zum „Aufbau einer Gegenmacht von unten“/ Die Politik verschläft die Chance zur Beilegung der blutigen Auseinandersetzung  ■ Von Gerd Rosenkranz

Die Reaktion hinter den Mauern war knapp und eindeutig. Als die Rote Armee Fraktion (RAF) im April ihren vorläufigen Abschied vom bewaffneten Kampf verkündete, kommentierte eine Gefangene, die selbst einmal zum inneren Zirkel der RAF gerechnet wurde, die Meldung mit unverstellter Erleichterung: „Endlich!“. Ein einziges spontanes Wort, von einer Ohrenzeugin glaubhaft von drinnen nach draußen befördert, klärt die Befindlichkeit der Inhaftierten und die in der Öffentlichkeit chronisch überschätzte Kommunikationsintensität zwischen den Gefangenen und ihren aktiven Genossen nachhaltiger als manche Staatsschutz-Theorie der vergangenen beiden Jahrzehnte.

Zwei Silben belegen, daß die RAF-Häftlinge auf die Wortmeldung aus der Illegalität lange hatten warten müssen. Länger offenbar, als ihnen lieb war. Und sie widerlegen manche Spekulation, die sich um Irmgard Möllers schon am Tag nach der Veröffentlichung im Namen aller „Gefangenen aus RAF und Widerstand“ formulierte Antwort rankte. Die RAF- Exegeten im Staatsschutzapparat gerieten nämlich darüber ins Grübeln, wie es wohl geschehen konnte, daß sich die im nordischen Lübeck einsitzende Unterzeichnerin mit ihren in den Hochsicherheitstrakten übers Land verstreuten Genossen so rasch über die – anscheinend einhellige – Zustimmung zum demonstrativen Kurswechsel der RAF hatte einig werden können. Sie mußte es gar nicht erst. Die Antwort war zweifellos längst formuliert: für den Tag X, der nun gekommen war.

Die „Waffenstillstandserklärung“ der RAF und die Zustimmung der Gefangenen stießen auf die Resonanz, die ihnen gebührte. Wer in Politik und Öffentlichkeit mit der Thematik befaßt war, erkannte rasch, daß die Chance auf eine Lösung dieser aus einer vergangenen historischen Etappe übriggebliebenen Auseinandersetzung noch nie so groß gewesen war. Sie müsse nur ergriffen werden, drängte etwa der damalige Justizminister Klaus Kinkel (FDP).

Im Spätsommer nun machte die RAF ihre Ankündigung aus dem April-Papier – „Wir werden demnächst über alles genauer reden“ – wahr. Auf acht engbedruckten DIN-A3-Blättern veröffentlichte Konkret die bei weitem ausführlichste Strategie-Erklärung der Gruppe seit dem sogenannten „Mai-Papier“ aus dem Jahr 1982. Damals war unter der Überschrift „Guerilla, Widerstand und antiimperialistische Front“ die Idee zum gemeinsamen Aufbau bewaffneter Gruppen in den kapitalistischen Zentralstaaten Westeuropas entwickelt worden, das sogenannte „Frontkonzept“. Das neue Papier – als Sonderdruck unter dem Titel „RAF: Wir müssen das Neue suchen“ erschienen – markiert eine fundamentale Abkehr von der bisherigen Strategie der RAF.

Um es vorweg zu sagen: Außerhalb der linken Szenezusammenhänge wurde und wird die ausladende Abhandlung praktisch ignoriert. Diese Null-Reaktion ist verdächtig. Sie kann nicht nur mit der langatmigen Detailliertheit zusammenhängen, mit der die Gruppe ihre Anschläge der vergangenen Jahre und die vorläufige Einstellung des bewaffneten Kampfes zu rechtfertigen trachtet. Die öffentliche Ignoranz findet ihre Erklärung auch nicht allein in den terroristischen Aktivitäten der Rechten, die inzwischen die Extremismus-Debatte beherrschen. Vielmehr scheinen sich die Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft nach der April-Erklärung entspannt zurückgelehnt zu haben: Die RAF gilt als abgehakt, die Einlassungen der „unbewaffneten“ Gruppe werden offenbar nicht höher bewertet als die eines autonomen Zirkels in Berlin-Kreuzberg. Kurz, man geht zur Tagesordnung über. Die Restabwicklung wird jenen Staatsschützern anheimgestellt, die in den vergangenen 20 Jahren konsequent jede Chance zur Beendigung dieser blutrünstigen Form der politischen Auseinandersetzung verstreichen ließen. Die neue Unbekümmertheit im Umgang mit der RAF mag verständlich sein. Aber sie könnte sich bitter rächen.

Wer von der RAF erwartet, sie möge nach der Einsicht in ihre politische Niederlage nun in Sack und Asche gehen, von gesellschaftsumwälzenden Vorstellungen Abstand nehmen und sich reumütig ihrer Opfer erinnern, wird von dem Pamphlet enttäuscht sein. Aber auch wer auf der entlastenden Fiktion beharren will, man habe es bei dieser Guerilla mit einer schlichten Mörderbande zu tun, nimmt das Papier besser nicht zur Hand. Es könnte sein Weltbild brüchig machen. Wer sich aber der – erheblichen – Mühe unterziehen möchte, den moralischen Rigorismus, die taktischen Motive und die Rechtfertigungen der Täter nachzuvollziehen, dem sei die Lektüre empfohlen.

Die RAF wendet sich mit diesem Papier konsequent ab von ihrem über zwanzig Jahre beanspruchten, elitären Avantgarde- Anspruch. In immer neuen Varianten versichert sie der linken Szene und darüber hinaus allen, die die nun beschworene „Gegenmacht von unten“ organisieren sollen, die Gruppe wolle zurücktreten ins Glied. Und dies aus guten Gründen: „Im Kapitalismus ist Hierarchie Teil der Gesellschaftsstruktur, in die jede/r von klein auf gezwängt wird. Wir haben diese Struktur in unseren Zusammenhängen nicht aufgelöst. Durch die starke Orientierung auf Angriff, die fast ausschließliche Orientierung gegen die Projekte und Strategien des Imperialismus, haben wir diese reproduziert. Es waren falsche Wertvorstellungen, die zwischen uns und den GenossInnen und dann wieder zwischen ihnen und anderen in den legalen Zusammenhängen standen. Guerilla war in dieser Struktur nicht einfach eine besondere Entscheidung zu kämpfen, sondern sie war das Absolute. [...] Diese Art der wertenden Einordnung steht der revolutionären Entwicklung entgegen.“ Der Gruppe sei seit 1989 „immer deutlicher geworden, daß wir Starrheiten, alte Rangehensweisen und Orientierungen aufbrechen und umwälzen müssen“.

Bisweilen scheint es, als sei der sogenannten Kommandogruppe der eigene, beziehungsweise von den weniger Mutigen an sie herangetragene Avantgarde-Anspruch im Laufe der Zeit mehr Last als Lust geworden. So erregt man sich darüber, „mit welcher Selbstverständlichkeit sich Leute hinsetzen und Aktionen von uns begutachten, ohne je selbst einen Gedanken daran zu ,verschwenden‘, das, was sie von uns fordern, selbst zu machen“, beispielsweise nach der heftigen Szene-Kritik an den Gewehrsalven auf die Bonner US-Botschaft während des Golfkriegs. Die Gruppe hat es offenbar satt, „daß uns viele als Institution begreifen“, daß „GenossInnen es an uns delegiert haben, auf einer bestimmten Konfrontationsstufe zu kämpfen“, oder die RAF schlicht als „Projektionsfläche“ eigener Revolutionsromantik mißbrauchen. Diese „falsche Arbeitsteilung“ in der radikalen Linken müsse aufgehoben werden, die RAF habe mit ihrer Waffenstillstandserklärung „auch Verantwortung abgegeben“.

Die RAF verwendet in der August-Erklärung auffallend viel Raum auf die politische Rechtfertigung ihrer Morde seit Mitte der achtziger Jahre. Das Motiv liegt auf der Hand: Daß nicht mal mehr die sympathisierende Szene die höhere Logik hinter den meisten ihrer Attentatsziele nachvollziehen konnte, liegt der Gruppe schwer im Magen. Nach fast allen Anschlägen mußten die Kommandos feststellen, daß selbst die radikale Linke die beabsichtigte Stoßrichtung gründlich mißverstand – trotz ausladender Kommandoerklärungen.

Als im Sommer 1984 unter anderem Helmut Pohl, Ingrid Jakobsmeier und Christa Eckes verhaftet wurden, war die Situation „so, daß niemand von denen, die in den Jahren vorher die Politik der Guerilla mitentwickelt hatten, übriggeblieben war“, schreibt die RAF. Die so entstandene Lage schätzte die Gruppe wohl besonders deshalb als dramatisch ein, weil sie sich zuvor beim Versuch des Aufbaus der gemeinsamen Front mit anderen westeuropäische Guerilla-Gruppen – etwa mit der französischen Action Directe, später auch den Resten der italienischen Brigate Rosse – als treibende Kraft geriert hatte. Und nun war die Truppe personell kaum mehr vorhanden. Die „RAF-Neulinge“ fühlten sich in mehrfacher Hinsicht unter totalem Druck: „Wir hatten Angst davor, daß es der Staat schaffen könnte, uns einen weiteren Schlag zu versetzen, noch bevor wir endlich den ersten Schritt unserer Front-Vorstellung umgesetzt hatten.“

Außerdem sei man bei der Umsetzung der von den inzwischen inhaftierten Vorgängern entwickelten Strategie „schon mitten in den Strudel des historischen Umbruchs [gemeint ist der Zusammenbruch des realen Sozialismus, d. Red.] reingekommen“. Subjektiv habe die RAF seit Mitte der 80er Jahre in dem Bewußtsein gehandelt, daß es sich bei der Auseinandersetzung mit dem Imperialismus zunehmend um „ein Rennen mit der Zeit“ handele, und deshalb zu immer härteren Mitteln gegriffen: „Dieses Denken führt fast automatisch zur militärischen Eskalation und verstellt den Blick für politische Prozesse und Möglichkeiten.“ Die RAF hat die ohnehin schwächlichen Kontakte zur legalen Linken in dieser Zeit praktisch abgebrochen, sich selbst völlig isoliert: „Wir haben uns die Frage nach Verankerung nicht gestellt.“

Die herbe Selbstkritik allerdings ist alles andere als durchgängig, wenn es um konkrete Attentate geht. So bezeichnen die Autoren des Papiers zwar den für zwei Menschen tödlichen Anschlag auf die Frankfurter US-Air-base im August 1985 und insbesondere den vorangegangenen Genickschuß- Mord an einem zwanzigjährigen GI als „großen Fehler“. Die Attentate auf Militärs, Wirtschaftsführer oder Verantwortliche aus dem politischen Apparat seien jedoch „für viele Menschen nachvollziehbar und moralisch legitim“ gewesen. Gemeint sind die Morde am Vorstandsvorsitzenden der Motoren- und Turbinen-Union Ernst Zimmermann (1985), am Siemens- Vorstand Karl Heinz Beckurts und seinem Fahrer Eckart Groppler (1986) und auch am Leiter der politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes Gerold von Braunmühl (1986). Die Witwe und die Brüder des ermordeten Beamten haben mit ihrem Engagement in den vergangenen Jahren nicht unerheblich dazu beigetragen, daß sich im Staatsapparat zunehmend die Befürworter einer „politischen Lösung“ der RAF-Problematik gegen die „Hardliner“ durchsetzen. Auf eine Antwort auf ihren offenen Brief „an die Mörder unseres Bruders“ jedoch, mit dem sie seinerzeit auf die Todesschüsse reagierten, wartet die Familie von Braunmühl auch nach sechs Jahren vergeblich.

Seit 1989 wollte die RAF den Prozeß der Selbstisolierung umkehren, zunächst allerdings ohne auf weitere Anschläge zu verzichten. Seither sei es darum gegangen, „eine produktive Verbindung zwischen dem Kampf der Guerilla und den Kämpfen der GenossInnen, die aus anderen Lebenszusammenhängen eine Praxis entwickeln, herzustellen“. Doch während der Mord am Chef der Deutschen Bank Alfred Herrhausen (1989) oder der Anschlag auf Innenstaatssekretär Hans Neusel (1990) von kaum jemandem als Signal einer neuen Strategie oder Umkehr verstanden werden konnte, wirkte die neue Annäherung an tagesaktuelle Konflikte in anderen Fällen geradezu kontraproduktiv: Nach dem Todesschuß auf Treuhandchef Detlev Karsten Rohwedder war die Luft aus der gewerkschaftlichen Protestbewegung gegen die Treuhand-Politik erst mal raus; die friedensbewegte Jugend reagierte eher kopfschüttelnd auf die Gewehrsalven auf die Bonner US- Botschaft während des Golfkriegs. Und die protestierenden Anwohner gegen den mörderischen Autoverkehr auf der Hamburger Stresemannstraße nehmen die Solidaritätsbekundungen durch die RAF entweder nicht zur Kenntnis oder reagieren erschrocken auf die merkwürdige Gesellschaft, in die sie da zu geraten drohen.

Daß die RAF etwas anderes erwarten konnte, zeigt den Grad ihrer Isoliertheit. An einem Punkt allerdings hat sie sich in bemerkenswerter Weise den Bewegungsgesetzen „konventioneller“ Politik angenähert: bei der Bewertung des Zusammenhangs zwischen ihren Anschlägen auf führende Repräsentanten des Staates und der Wirtschaft und dem künftigen Schicksal „ihrer“ Gefangenen.

„Unsere Aktionen“, schreibt die RAF, „haben mit zu der Situation beigetragen [...], den Staat in die Auseinandersetzung um die Freiheit der politischen Gefangenen zu zwingen.“ Das ist richtig. Die sogenannte Kinkel-Initiative ist weniger Ausdruck von Einsicht und Entspannung als staatlicher Reflex auf das andauernde Scheitern aller Bemühungen, der Metropolen-Guerilla mit den Mitteln der Repression und Fahndung Herr zu werden. Und insofern bergen auch die Drohungen eine gewisse Logik, die in diesem Papier, ebenso wie schon in der April-Erklärung, enthalten sind: Wenn der Staat den Gefangenen keine Perspektive nach dem Knast eröffnet, wenn er mit den derzeit laufenden neuen Prozessen gegen bereits verurteilte Gefangene deren Freilassung auf das nächste Jahrtausend verschiebt, dann „muß er wissen, daß er die Verantwortung dafür hat, daß sich das Konfrontationsverhältnis wieder verschärfen wird“. Dabei setzt die RAF darauf, daß mit ihrem jetzigen Schritt der Deeskalation „die Mobilisierung für die Freiheit [der Gefangenen, d. Red.] sehr breit in der Gesellschaft auf den Tisch gebracht wird“. Und: „Es muß den [...] Staatsschützern aller Fraktionen unmißverständlich klargemacht werden, daß die Konsequenzen für diesen Staat, wenn er am Ausmerzverhältnis [gegen die Gefangenen und generell linke Fundamentalopposition, d. Red] festhält, bei weitem das übersteigen werden, womit er konfrontiert gewesen wäre, wenn wir am 10.4. nicht diesen Schritt in unserer Geschichte gemacht hätten.“

Die RAF hat keinerlei präzise Vorstellungen, wie und vor allem wohin sich die in dem Papier dutzendfach beschworene „Gegenmacht von unten“ entwickeln soll, und sie bekennt sich dazu. „Es gibt kein Programm, kein Konzept, von uns nicht und von anderen nicht.“ Anlaß zur Häme, etwa aus den Reihen ebenso ratloser linker Intellektueller, kann dieser Offenbarungseid der RAF nicht sein. Die einfache Erkenntnis, daß der Kapitalismus die globalen Probleme ebensowenig zu lösen in der Lage scheint wie der zentralistische Sozialismus, scheint eine Binsenweisheit. Unerträglich an dem August- Papier ist etwas anderes. Die gegenwärtige RAF-Generation hat offenbar erkannt, daß der bewaffnete Kampf der achtziger Jahre auch aus der eigenen Perspektive verfehlt und kontraproduktiv war. Trotzdem scheint man entschlossen, mit einem Achselzucken zur Tagesordnung überzugehen. Ohne eine Wort der Trauer über die Opfer, die dieser Irrtum – auch in den eigenen Reihen – gefordert hat.

Und die andere Seite? Bundesinnenminister Seiters nutzte vor wenigen Tagen das Dienstjubiläum der Anti-Terror-Truppe GSG9, um die andauernde terroristische Gefahr zu beschwören. Das Gewaltpotential der RAF sei trotz anderslautender Erklärungen weiter vorhanden. Die Bundesanwaltschaft klagt ein halbes Dutzend Langzeit-Gefangener der RAF auf der Grundlage von Kronzeugenaussagen der DDR-Aussteiger erneut an, mit dem erklärten Ziel weiterer lebenslanger Freiheitsstrafen. Ein Geheimdienstmann füttert die Welt mit der Behauptung, die neue freundschaftliche Kooperation zwischen Bundesnachrichtendienst und KGB werde „in absehbarer Zeit zu spektakulären Festnahmen“ von Mitgliedern des RAF-Untergrundkommandos führen (was der Verfassungsschutz umgehend als „totalen Unsinn“ dementiert). Ein OLG-Richter reicht aus, die mühsam zustande gebrachte Entlassungsprozedur für den kranken Gefangenen Bernd Rößner aus den Angeln zu heben. Kurz: Die sogenannte Kinkel-Initiative, die immerhin die Freilassung einiger Inhaftierter angestoßen hat, droht zu versanden.

Eine geschlossene politische Antwort auf die „Waffenstillstandserklärung“ der RAF ist ein halbes Jahr danach nicht erkennbar. Und für die scheint sich erst dann wieder jemand zu interessieren, wenn sich die Führungselite dieses Landes erneut zum Staatsakt für einen der Ihren in der Frankfurter Paulskirche zusammenfindet.

Der vollständige Text der RAF-Erklärung kann gegen 4 DM in Briefmarken bezogen werden bei: Konkret, Postfach 20 33 63, 2000 Hamburg 20