Nebensachen aus Moskau
: Der Tod fährt immer mit

■ Was einem so widerfahren kann, wenn man die Russen am Leben halten möchte

Moskau (taz) - Da war nichts mehr zu machen. Zig Autofahrer bremsten ab, um Zeugen eines gräßlichen Schauspiels zu werden. Auf der gegenüberliegenden Fahrbahn Richtung Minsk, kurz hinter Moskau, vertaute gerade ein Lkw einen Metallklumpen. Das geschieht tausendfach. Nur klemmte dort, wo vorher einmal die Rücktür gewesen sein muß, noch eine unförmige Fleischmasse. Der Bergungstrupp hatte seine Bemühungen eingestellt. Entwürdigung hört mit dem Tod nicht auf.

Rußlands und vor allem Moskaus Straßen sind Todespisten. Nirgends begegnet man einer derartigen Fülle letaler Unfälle, die es gar nicht zulassen, Fahrzeuge, geschweige denn ihre Fahrer zu identifizieren. Ordentlich aufgereiht kann man dann an Kontrollpunkten der Verkehrspolizei „Gai“ die Horrorgebilde bestaunen. Ja, bestaunen, denn abschreckend wirken sie anscheinend nicht.

Der Autofahrer in Rußland zeichnen sich durch einen eklatanten Mangel an Gefahrenbewußtsein aus. Unter Zuhilfenahme diverser Reizmechaniken wie Lichthupen, Hörnern und unsichtbarer Scheuklappen, die der Fahrer aufsetzt, um sich vom Seitenverkehr nicht irritieren zu lassen, erkämpft er sich das Vorfahrtsrecht. Wahrscheinlich will er die Geschichte einholen. Denn wie in keinem anderen Staat exerzieren Regierungsmitglieder und deren Subparasiten das tagtäglich vor. Mit Lichtorgeln rasen sie durch die Stadt. Macht ist Schnellig- und Rücksichtslosigkeit, muß der einfache Mensch denken. Wer wollte es ihm dann verdenken... Personenschaden, scheint mir nach mehrfachen Erste-Hilfe-Einsätzen, zählt nicht mehr als das zerschundene Blech.

Wolodja ist Arzt, er verdient nicht sonderlich viel, montiert daher Autos. Auch meins. Als wir neulich des Nachts den liegengebliebenen Wagen vom Flughafen abholten – damit ihm am Morgen nicht die Räder fehlten –, bat ich ihn, sich anzuschnallen: „Ach, was soll der Blödsinn.“ Ich bestand drauf. Erzählte ihm, wie viele Leichen ich gesehen hatte, die noch leben könnten. Wolodja wurde böse. Mit dem mangelnden Gefahrenbewußtsein hatte ich etwas gegen Russen gesagt. Dabei hab ich gar nichts gegen sie. Ich will doch nur, daß sie am Leben bleiben. Wolodja sah es nicht ein. Wie Tausende staatliche und gelegentliche Taxifahrer. Sie fordern einen auf, den Gurt umzulegen. Sucht man dann nach dem Bodenschnapper – meistens vergeblich, weil unterm Sitz verkantet –, gucken sie einen verstört an: „Was machen sie denn da?“ Der Hinweis, sich anzuschnallen, erfährt man, war „doch nur wegen der Polizei“.

Auf Rußlands Straßen starben im ersten Halbjahr über 13.000 Menschen, so viele wie in zehn Jahren Afghanistan-Krieg. 1991 kamen insgesamt 37.500 um, 214.400 wurden verletzt. Und das angesichts der Tatsache, daß der Grad der Motorisierung hier weit unter dem Westeuropas liegt. Rußland erreicht auch in diesem Bereich Weltklasseniveau.

Natürlich trägt der grauenvolle Zustand der Straßen und Vehikel seinen Teil dazu bei. Und der Alkohol, dem im ersten Halbjahr mittelbar 3.000 Menschen zum Opfer fielen. Nicht zuletzt die undurchschaubaren Verkehrsregeln. Häufig kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, der Abschnittsleiter habe sie selbst ersonnen. Was läßt sich zu einer Regelung sagen, die das Fahren mit Standlicht vorschreibt? Wohlgemerkt, meistens brennt nur eine Lampe. Es kann nur einen Sinn haben: Der Verkehrsteilnehmer soll sich nicht im voraus über die knietiefen Schlaglöcher aufregen.

Rücksicht im Straßenverkehr ist ein Zeichen von Zivilisation. Wo Klassenunterschiede besonders stark ausgeprägt sind, ist das Autofahren Jagdsport. Moskaus minderbemittelte Fußgänger können davon ein Lied singen. Zebrastreifen dienen nicht dazu, ihnen den Vortritt zu lassen. Sind die Streifen als solche noch zu erkennen, haben sie einen einzigen Zweck: Sie sind Sammelpunkte für schutzlose Passanten. Hat sich eine ausreichende Horde dieser Spezies gesammelt, um einen Fahrer zu beeindrucken – unbedachtes Verhalten endet mit Blechschaden! –, können sie den Übergang wagen. Auch in diesem Fall gilt die Regel: Nicht anhalten, nur langsamer fahren. Ein Totalstopp führt unweigerlich zur Karambolage. Die Fußgänger wissen das. Wenn ich anhalte, setzen sie grundsätzlich keinen Fuß auf die Straße. Klaus-Helge Donath