Balten kritisieren Jelzins Entschluß, den Truppenabzug zu stoppen

■ Russen fordern Garantien für russische Minderheiten

Berlin (taz) – Die Öffentlichkeit der drei baltischen Staaten reagierte mit scharfem Protest auf die Entscheidung Rußlands, den Abzug der russischen Truppen zu unterbrechen. Der estnische Präsident Lannart Meri will die KSZE einschalten. In allen drei Ländern glauben die politisch Verantwortlichen, der russische Präsident Jelzin habe vor den Nationalisten im eigenen Land kapituliert.

In Wirklichkeit jedoch versuchte die russische Seite schon seit Beginn der Verhandlungen, den Truppenabzug hinauszuzögern. Aus der Sicht Litauens, Lettlands und Estlands handelt es sich bei den russischen Truppen um Besatzungstruppen, die so schnell wie irgend möglich nach Rußland zurückgeführt werden sollten. In Moskau hingegen wurde 1999 als Termin für den Abschluß des Truppenrückzugs genannt. Bis dahin müßten neue Unterkünfte für die Soldaten gebaut werden. Doch ausschlaggebend für die harte russische Haltung dürften noch andere Interessen sein.

Mitte Juli verabschiedete der Oberste Sowjet in Moskau einstimmig eine Erklärung, in der den baltischen Staaten vorgeworfen wird, sie würden die „Menschenrechte“ ihrer rußlandstämmigen (rossijane) Bevölkerungsgruppen gröblich verletzen. Als Redner in der Debatte trat auch der ehemalige Oberbefehlshaber der Nordwestlichen (Baltischen) Heeresgruppe, Waleri Mironow, auf, der heute das Amt des stellvertretenden Verteidigungsministers wahrnimmt. Er erklärte, daß „Rußland in der Nordwest-Region ökonomische und militärpolitische Verluste“ erlitten habe. Doch verlangten die „Lebens-, sowie historischen und wirtschaftlichen Interessen“, alles zu tun, damit „Rußland seine Positionen“ im Baltikum nicht verliere. Besorgnis hat in den baltischen Hauptstädten auch der Entwurf einer neuen russischen Verteidigungskonzeption ausgelöst, die bei einem Treffen mit westlichen Experten Mitte Juni in Moskau vorgestellt worden war. Als eine der Aufgaben der Streitkräfte wird darin „die Verteidigung der Rechte und Interessen von außer Landes lebenden russischen Bürgern und solcher Personen, die ihnen ethnisch und kulturell nahestehen, vor allem in ehemaligen Sowjetrepubliken“ vorgesehen.

Wie sehr sich in der baltischen Frage auch der innenpolitische Machtkampf in Moskau widerspiegelt, läßt sich am Beispiel des russischen Außenministers Andrei Kosyrew zeigen. Noch im Frühsommer hatte der neugeschaffene Sicherheitsrat, der als Interessenvertretung des militärisch-industriellen Komplexes gilt, den Politiker scharf angegriffen. Dieser hatte zuvor in einer öffentlichen Erklärung vor einer „Partei des Krieges“ gewarnt, die daran interessiert sei, notfalls auch mit Waffengewalt „die Interessen von Russen im gesamten Gebiet der ehemaligen UdSSR zu verteidigen“. Eine solche Erklärung, so ließ der Sicherheitsrat daraufhin wissen, sei „schädlich“.

Als Kosyrew jedoch am 6.August in Moskau mit seinen baltischen Amtskollegen Gespräche über den Abzug der russischen Truppen führte, verknüpfte er nunmehr selbst die „Rechte von Russen im Baltikum“ und den militärischen Themenkreis. Er bot eine vollständige Rückführung der Truppen schon für 1994 (und nicht erst für 1999) für den Fall an, daß, unter anderem, eben jene Rechte abgesichert würden.

In einer Stellungnahme der lettischen Delegation für die Gesamtverhandlungen mit Moskau heißt es dazu: „Die Gesetzgebung der Republik Lettland ist auf die Schaffung einer demokratischen Gesellschaft gerichtet, die die Gleichberechtigung von Menschen aller Nationalitäten sichern soll. Dies wird durch ein Urteil von Experten des Europarats bestätigt.“ Auch ein für das Moskauer Parlament angefertigtes Gutachten, das die Mitte Juli verabschiedete Erklärung zu den baltischen Staaten vorbereiten sollte, stellt fest, daß es in der Gesetzgebung Lettlands und Litauens „keine konkreten Normen gibt, die russischsprachige Einwohner diskriminieren.“

Immerhin gibt es Unterschiede in der Praxis der drei baltischen Länder. Litauen mit etwa 20 Prozent russischsprachigen Einwohnern hat die „Rechte“ dieses Bevölkerungsteils sehr entgegenkommend ausgelegt – im Unterschied zu Estland und Lettland, wo der entsprechende Anteil bei 40 beziehungsweise 50 Prozent liegt.

Auch die übrigen Konditionen für einen früheren Truppenabzug Kosyrews treffen nur auf Lettland und Estland zu. Als da wären: „Verzicht auf territoriale Ansprüche“ – Lettland verlangt die Wiederangliederung des Gebiets um Abrene, das 1944 der Russischen Föderation angeschlossen worden war; Estland wiederum befürchtet eine Abspaltung der Region um Narva, die mehrheitlich von Russen bewohnt wird.

Ferner: „Weitererhaltung von bestimmten strategischen Objekten für eine längere Zeit“ – damit sind die Großradaranlage in Skrunda und die Marinestützpunkte Liepaja und Ventspils gemeint, alle in Lettland gelegen. Aus estnischer und lettischer Sicht sind die genannten Konditionen Rußlands aber nicht verhandelbar. rob