Todesstrafe im „Niemandsland“ der Demokratie

■ In Washington wird auch über die Einführung der Todesstrafe abgestimmt

Washington (taz) – 48 Stunden lang sollte Frieden herrschen – oder wenigstens Waffenstillstand. So hatte es sich zumindest Pastor Johnson vorgestellt, als er am Freitag um sechs Uhr morgens mit fünf Mitgliedern seiner Baptistengemeinde auf Patrouille ging. Die Gruppe marschierte schweigsam um die Häuserblocks im Stadtviertel Brookland an der nordwestlichen Grenze Washingtons. Vom nächtlichen Crack-Geschäft auf der zwölften Straße war nichts mehr zu sehen. Ein paarmal hielt die Gruppe an, damit Autofahrer das Transparent entziffern konnten. „Die Kirchen rufen die Hauptstadt zur Ruhe“, stand zu lesen. „48 Stunden keine Gewalt.“

Washington mit seinen rund 600.000 Einwohnern ist laut Schulbuch und Reiseführer Hauptstadt der einzig verbliebenen Supermacht, laut Mundpropaganda und FBI-Statistik gilt sie als murder capital, als Mordhauptstadt. In den letzten vier Jahren sind hier über 1.500 Menschen umgebracht worden, davon allein 395 seit dem 1.Januar diesen Jahres.

Über Ursachen dieser Gewaltwelle haben Kongreßabgeordnete, Stadtpolitiker, Bürgerinitiativen, Polizisten oder Pastoren unterschiedliche Ansichten, aber über zwei Gründe sind sich alle einig: Armut und Crack. Am schlimmsten betroffen vom Drogenhandel sind die armen Stadtteile im Süd- und Nordosten Washingtons, die zu über 90 Prozent von Afroamerikanern bewohnt sind. Der Niedergang der Städte wird hier ebenso brutal deutlich wie in South Central oder Harlem. Was Washington von Los Angeles, New York oder Chicago unterscheidet, ist der makabre Kontrast zwischen Capitol Hill und Crackhäusern, zwischen einem Heer von Secret-Service- Beamten, die das „White House“ sichern, und allnächtlichen Schießereien in den – meist von Schwarzen bewohnten – Vierteln.

Städte, Armut, Drogen – Gewalt in den Slums, das war kein Thema für den Wahlkampf. Wäre da nicht der Mord an Tom Barnes passiert.

Barnes war nicht nur ein Weißer, sondern auch Mitarbeiter des US-Senators Richard Shelby, ein Demokrat aus dem Bundesstaat Alabama. Die Tat ereignete sich in der Nähe von Barnes Haus im Stadtteil Capitol Hill, das sich, wie der Name schon sagt, direkt an das Regierungsviertel anschließt, und als unsicheres Terrain gilt.

Shelby reagierte prompt. Im US-Senat setzte er durch, daß die Bürger der Stadt Washington heute, am Tag der Präsidentschaftswahlen, auch über die Wiedereinführung der Todesstrafe abstimmen müssen. Der Senator steht heute ebenfalls in Alabama zur Wiederwahl an. Die law and order-Politik im fernen Washington wird dem Senator – der für den freien Verkauf von Schußwaffen eintritt – in seinem Heimatstaat, in dem die Todesstrafe angewandt wird, viel Beifall einbringen.

Nun fragt man sich, warum ein Senator mit der Hauptstadt so umspringen kann. Er kann, denn der District of Columbia, wie das Territorium Washingtons genannt wird, ist kein eigener Bundesstaat. Seine Bürger zahlen zwar Steuern, sind im Senat aber gar nicht, im Repräsentantenhaus nur durch eine Abgeordnete vertreten, die kein Stimmrecht hat. Bestrebungen, als 51. Bundesstaat anerkannt zu werden, sind bislang gescheitert, was nicht zuletzt mit dem Umstand zu tun hat, daß hier fast 70 Prozent Schwarze und nur 30 Prozent Weiße leben. Der Kongreß kann, wie im Fall Shelby, der Hauptstadt legislative Maßnahmen aufzwingen. „Der District of Columbia“, sagt dessen Abgeordnete Eleanor Holmes Norton, „ist das Niemandsland der amerikanischen Demokratie.“ Oder die „letzte Kolonie Amerikas“.

Shelbys Initiative hat in der Stadtverwaltung, in Bezirksausschüssen und Bürgergruppen erbitterte Diskussionen ausgelöst. Viele empfinden es als paternalistisch oder gar rassistisch, daß ein weißer Senator aus einem der Südstaaten der Stadt nach dem Mord an einem befreundeten Weißen ein Todesstrafengesetz aufzwingen will. Andererseits macht sich unter den Bürgern zunehmend Frustration und pure Verzweiflung breit: „Den Killern ein Warnsignal setzen“, heißt der Slogan vieler Befürworter der Todesstrafe. Die meisten geben ganz freimütig zu, daß sie weder an eine abschreckende Wirkung noch an die Unfehlbarkeit der Justiz gegen Irrtümer glauben. Hilflosigkeit und Vergeltung sind die Motive.

Gegen die Todesstrafe mobilisieren vor allem die Kirchen in Washington. 140 moslemische, jüdische und christliche Gemeinden haben sich zusammengeschlossen, um unter dem Motto „Against All Killing“ (Gegen jede Form des Tötens) am 3.November eine Mehrheit gegen das Referendum zustandezubringen.

Letzte Meinungsumfragen sagen ein knappes Ergebnis voraus, das kurzfristig von Schlagzeilen über neue Gewalttaten beeinflußt werden kann. Da kämpfen die Kirchen mit dem Rücken zur Wand: Der Versuch, die Stadt wenigstens für 48 Stunden zur Besinnung zu bringen, scheiterte bereits in der ersten Nacht. Die Polizei meldete fünf Morde innerhalb von neun Stunden – einige in unmittelbarer Nachbarschaft der Gemeindemitglieder, die auf Patrouille waren. Andrea Böhm