Neuer Brandherd in Nordossetien

■ Schwere Kämpfe mit Inguschen/ Alte Konflikte brechen auf/ Folge von Stalins Deportationen/ Moskau schickt Spezialeinheiten/ Ausnahmezustand verhängt

Der russische Präsident Boris Jelzin hat gestern den Ausnahmezustand über die nordkaukasischen Gebiete Nordossetien und Inguschetien für die Dauer eines Monats verhängt. Vizepremier Georgij Tschicha wurde gleichzeitig zum Leiter einer provisorischen Verwaltung ernannt, die zunächst beide Regionen umfassen soll. Tschicha war nach Ausbruch des Konfliktes an der Spitze von dreitausend russischen Spezialeinheiten nach Nordossetien geeilt, um in Waffenstillstandsverhandlungen zwischen beiden kaukasischen Völkern zu vermitteln.

Eine Vereinbarung kam zustande. Die Schießereien hielten gestern weiter an, obwohl die russischen Elitetruppen „Speznas“ die Kombattanden auseinanderzuhalten versuchen. Am Wochenende hatten beide Seiten die Kämpfe mit schwerer Artillerie und Panzern geführt. Das russische Fernsehen berichtete von unvorstellbarer Brutalität. Demnach soll ein ossetischer Polizist von Inguschen zunächst getötet, dann gevierteilt worden sein. Anschließend wurde die ganze Familie niedergemetzelt. Genauere Angaben über Opfer liegen nicht vor.

Die Kämpfe konzentrieren sich auf ein kleines Gebiet wenige Kilometer östlich der nordossetischen Hauptstadt Wladikawkas (früher Ordschonikidse). Die Inguschen beanpruchen den Bezirk Prigorod für sich. Seit langem war den russischen Behörden klar, welches Gewaltpotential die territorialen Streitigkeiten zwischen Osseten und Inguschen in sich bergen. Hoffnung zur Beilegung der Streitigkeiten schürte die Verabschiedung des Gesetzes, das die Rehabilitierung unter Stalin deportierter Völker regeln sollte. Allerdings blieb es bei dem Gesetz, das gut gemeint war, die daraus resultierenden territorialen Veränderungen aber – bewußt – außer acht ließ. Schon mehrfach erklärte Moskau seit Januar 91 den Ausnahmezustand in dieser Region.

In den 50er Jahren kehrten die Inguschen, ohne Moskaus Placet abzuwarten, aus ihrer mittelasiatischen Verbannung in den Kaukasus zurück. Zusammen mit dem Nachbarvolk der Tschetschenen erhielten sie ihre Autonome Republik Tschetscheno-Inguschetien zurück. Nur hatte sich das Territorium verkleinert, und die Leidtragenden waren die Inguschen. Den Westteil, dort wo die Inguschen zu Hause waren, hatte Stalin den Nordosseten zugeschustert. Der Bezirk Prigorod umfaßt immerhin die Hälfte des gesamten inguschischen Siedlungsgebietes. Die knapp 200.000 Inguschen fühlten sich auch nicht sonderlich wohl unter den Fittichen der ersten Titularnation, den Tschetschenen. Mit ihnen teilen sie die Sprache und den sunnitischen Glauben, doch sind sie ihnen zahlenmäßig vierfach überlegen.

Als 1991 der selbstherrliche General Dschochar Dudajew in Tschetscheno-Inguschetien nach der Macht griff und die Unabhängigkeit von Rußland deklarierte, wollten auch die Inguschen die Chance nutzen und sagten sich von ihrem tschetschenischen Brudervolk los. Freilich ohne Erfolg. Etwa 70.000 Inguschen leben außerhalb ihres historischen Siedlungsraumes in Ossetien und Tschetschenien. Der Kampf um neues altes Land, sagen die Inguschen, hätte nicht allein symbolischen Charakter. Er sei rein pragmatisch, weil den Bauern Ackerland fehle. In den Grenzgebieten zu Ossetien können die Bauern die Pacht nicht mehr erschwingen.

Einen Ausgleich mit Nordossetien zu finden, wird schwierig sein. Denn es spielt noch ein konfessionelles Moment mit hinein. Die Osseten sind eines der wenigen Völker des Nordkaukasus christlichen Glaubens, die Inguschen dagegen Moslems. Moskau war über die brenzlige Lage seit langem im Bilde. Erst jetzt reagierte es, aus Angst, der Funke könnte in den Süden Rußlands überspringen und eine weitere Flüchtlingswelle nach sich ziehen. Klaus-Helge Donath