Fluch einer geschundenen Region

Braunkohletagebau in der Niederlausitz: Der Raubbau an der Natur hat die Landschaft ökologisch wie ökonomisch ruiniert  ■ Aus Lauchhammer Erwin Single

Kurz hinter Kostebrau geht die Welt zu Ende. Dort, westlich der Autobahn Berlin–Dresden gelegen, krümmt sich die kahle Erde zu aufgewühlten Halden. Die kärglichen Bäume, die sich zwischen den tiefen Furchen empordrücken, sind krank und mit einem aschfalen Schmierfilm überzogen. Höchstens 500 Meter trennen den kleinen Ort von einer kilometerweiten Mondoberfläche, die die gewaltigen Abraumbagger in die Niederlausitzer Landschaft hineingefressen haben. Hier, wo die Straße in der Grube endet, wurde jahrzehntelang Braunkohle im Tagebau gewonnen und im kaum einen Steinwurf entfernten Lauchhammer im Kraftwerk verfeuert, veredelt oder zu Briketts verarbeitet. Heute stehen die meisten der Anlagen still, und in den Flözen erinnern nur noch aufgetürmte Eisenschwellen und ein zurückgelassener 200 Meter langer Schreitbagger an vergangene Zeiten.

Seit einem Jahr kann sich die geschundene Landschaft von dem kolossalen Raubbau wieder etwas erholen. Das Dorf erstickt nicht mehr unter Asche und ätzendem Schwefel, der manchen regnerischen Tag zur Nacht werden ließ. „Jetzt“, sagt eine alte Frau, die in einem Garten am Kostebauer Ortsrand ihr Beet harkt, „kann ich wenigstens wieder mein eigenes Gemüse essen“. Ein schwacher Trost nach all den Jahren, in denen die Menschen von dem schwarzen Gold lebten und unter ihm litten.

„Mit Lauchhammer stirbt eine Region“. Auf Tansparenten hatte ein „Notstandskomitee“ aus Betriebsräten, Gewerkschaftern und aufgebrachten Bürgern Helmut Kohl schon im Sommer klargemacht, was für sie auf dem Spiel steht. Als der Kanzler sich zu einer Stippvisite im nahegelegenen ehemaligen Synthesewerk Schwarzheide einfand, wo der Ludwigshafener BASF-Konzern kräftig investieren will, erzwang die Abordnung ein Gespräch mit dem im Osten selten gesehenen Gast. Mit der Kohle sei kein Geld mehr zu verdienen, beklagte sich das Häufchen und legte Fakten nach: in dem 23.000-Einwohner-Ort wird die Arbeitslosigkeit Ende des Jahres auf 70 Prozent hochschnellen; von den einmal 15.000 Industriearbeitsplätzen sollen höchstens 4.000 übrigbleiben. Sieben der acht Brikettfabriken haben bereits dichtgemacht, die letzte wird spätestens Ende 1994 folgen. Das fast fertiggestellte 64-Megawatt-Kraftwerk bleibt eine unvollendete Bauruine, und auch das Lauchhammerwerk, einziger Ostproduzent von Tagebaugerätschaften, sieht schlechten Zeiten entgegen. Selbst in der Kohleveredelung, einer der Paradebranchen der DDR-Chemie, arbeiten derzeit kaum mehr als 1.000 Mann – als ABM-Kräfte haben sie begonnen, ihre alten Anlagen abzureißen.

Wer Anschauungsunterricht in Sachen Abschwung Ost sucht, ist in Lauchhammer genau richtig. Kilometerlang schlängelt sich die steinerne Braunkohlenbandstraße von den Tagebauausläufern durch die Stadt. Das haushohe aquäduktartige Gebilde, das den Eindruck erweckt, als sei es von den DDR- Planern für die Ewigkeit ersonnen worden, fällt Stück um Stück der Abrißbirne zum Opfer. Kipplaster rasen durch die engen, kopfsteingepflasterten Straßen und karren die Überreste in das nächste Braunkohleloch. Daneben pflanzen Arbeiter junge Bäume in den frisch planierten Boden – erste Rekultivierungsmaßnahmen, mit denen ein Teil der Übertage-Kumpel, unterstützt von der Nürnberger Bundesanstalt für Arbeit, als ABM-Gärtner ein befristetes Auskommen gefunden hat.

„Hektar um Hektar sich nehmend von unnützen Boden“, beschrieb der sorbische Schriftsteller Jurij Koch die maßlose Zerstörung seiner Heimat durch den Tagebau, „als wäre es ein Klacks, ein paar Millionen Jahre auf die Schippe zu nehmen und zu verschaukeln.“ Dorf um Dorf fraßen die neu erschlossenen Kohlefelder; für ein paar Mark Entschädigung mußten die Einwohner ihre Heimat und Existenz aufgeben. Wohin die riesigen Schaufelräder auch vordrangen, nach dem Abräumen hinterließen sie nichts als schwarze Wüste.

Zurück blieb ein ökologisches Desaster: rund 380 Quadratkilometer nicht sanierter Tagebauflächen belasten das Lausitzer Erbe; im Süden Leipzigs hat die Braunkohleförderung 250 Quadratkilometer Land geschluckt. Die unnütz gewordenen Erdlöcher wurden bald großflächig als Müllgruben benutzt und rücksichtslos mit Zigtausenden Tonnen Industrieabfällen und Hausmüll zugekippt.

Welcher Giftcocktail dort schlummert, kann man dem Umweltschadensbericht des TÜV Rheinland entnehmen: Braunkohleaschen und -schlacken, Carbid- und Kalkschlämme, quecksilberhaltige Aktivkohle, Säureharzrückstände und jede Menge chlorkohlenwasserstoffhaltige Abfälle. Wieviel solcher Deponien es tatsächlich gibt, weiß so genau keiner. In den mitteldeutschen Braunkohlerevieren, so Umweltmister Klaus Töpfer, seien bisher 694, in der Lausitz 246 Altlastenverdachtsflächen ermittelt worden.

Doch damit nicht genug: auch der Grundwasserspiegel hat sich durch das ständige Abpumpen so weit gesenkt, daß heute akuter Wassernotstand herrscht. Wie teuer die Beseitigung der Umweltschäden kommt, das vermögen nicht einmal die Experten genau zu sagen – für die beiden Braunkohlereviere in der Lausitz und im Leipziger Raum werden die Kosten auf mindestens 30 Milliarden Mark veranschlagt. Jahrzehnte wird es dauern, bis die Wunden der geschändeten Natur einigermaßen verheilt sein werden.

Daß ausgerechnet im nahegelegenen Senftenberg, wo die Lausitzer Braunkohle AG (Laubag) ihren Firmensitz innehat, noch eine Lösung für die ökonomische und ökologische Misere der Lausitzer Tagebaue gefunden wird, glaubt in Lauchhammer niemand mehr. Die Braunkohle, die einmal fast 90 Prozent des DDR-Energiebedarfs deckte, ist heute weniger denn je gefragt. Während 1989 im Osten noch 301 Millionen Tonnen des Schwarzen Goldes aus den Flözen gebaggert wurden, werden es in diesem Jahr gerade noch die Hälfte sein. Derzeit arbeiten noch 36.000 Menschen im größten Braunkohlegebiet Ostdeutschlands; Ende nächsten Jahres dürften kaum mehr 25.000 übrigbleiben.

Auch die Privatisierung der Tagebaue kommt nicht voran. Seit über einem Jahr ziehen sich die Verhandlungen der Treuhand mit dem einzig ernsthaften Interessenten hin, einem von den Kölner Braunkohleschürfern „Rheinbraun“ angeführten Konsortium, hinter dem sich die Stromkonzerne RWE, Preussen Elektra und Bayernwerk verbergen. Doch das Stromkartell hatte sich ursprünglich nur für die schwefelärmere Lausitzer Kohle interessiert, von der Bitterfelder Mibrag (Mitteldeutsche Braunkohlewerke AG) wollten sie dagegen nichts wissen. Die Treuhand aber will die beiden Altlasten im Zweierpack verkaufen. Erst als die Berliner Breuel- Behörde die Mibrag einem amerikanisch-britischen Konkurrenten andiente, wachten die westdeutschen Energieversorger auf. Zwar wollen sie nun auch über einen Mibrag-Kauf verhandeln, doch der Poker um Steuermilliarden für die Altlastensanierung und den Bau neuer Kraftwerke ist längst noch nicht zu Ende. Für die Stromriesen macht ein Engagement nur dann Sinn, wenn sie die Braunkohle in den geplanten Mega-Kraftwerken zu Strom verfeuern können. An einem Punkt sind Treuhand, Bundesregierung und die Braunkohleländer Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt den Interessenten bereits entgegengekommen: sie werden die Kosten für die Beseitigung der Altlasten tragen.

In der Niederlausitz aber macht die Geste aus Bonn wenig Eindruck. Die Region steht vor dem wirtschaftlichen Nichts. Hier läßt sich nichts mehr kaputtmachen, macht ein Kalauer die Runde, also werden Müllplätze, Schrotthalden und Imbißbuden die einzige Wirtschaftsstruktur bleiben. Die nach der Wende gebauten Luftschlösser haben sich längst verflüchtigt. Geblieben sind Verbitterung und Zorn. „Dort“, sagt Werner Boenke, einer der Sanierungsarbeiter, und zeigt auf eine kleine Anhöhe, „stand damals Erich mit seiner Delegation. Wenn die so weitermachen, geht's Kohl wie Honecker.“