Archaischer Avantgardist

■ Der russische Chorleiter und Volksmusikfreund Dimitri Pokrovsky in Bremen

Wenn Dimitri Pokrovsky einmal zuhause in Moskau ist, dann setzt er sich am liebsten an seinen Sampler und bastelt. Klänge interessieren ihn, Klänge, wie es sie in natura nicht gibt. Pokrovsky begann seine Musikerkarriere in den 60er Jahren als entschiedener Avantgardist. Das war nicht einfach in der Sowjetunion, das zwang ihn dazu, zeitweise auch als Physiker seinen Lebensunterhalt zusammenzukratzen. 1973 hat Prokrovsky einen Chor gegründet, mit dem er versucht, die Klänge der archaischen russischen Gesänge am Leben zu erhalten. Seit 1987 darf das zehnköpfige Dimitri Pokrovsky Ensemble auch offiziell auftreten, und mit besonderer Resonanz tut es das in den Vereinigten Staaten, wo Pokrovsky selbst seitdem einige Monate des Jahres als akademischer Lehrer arbeitet.

Wie begann Ihr Interesse für die archaische russische Musik?

Dimitri Prokovsky: Anfang der 60er Jahre, da studierte ich Balalaika an der Akademie. Ich spielte Mozart und Bach. Ich ging zu meinem Professor und fragte, wieso soll ich auf diesem russischem Instrument nur westliche Musik spielen? Er sagte, er wüßte das auch nicht.

Sie reisten herum und suchten nach russischer Musik?

Ich bin erst einmal in Dörfer im russischen Norden gereist. Da habe ich zum erstenmal gehört, wie echte Dorfsänger singen. Das hatte nichts mit dem zu tun, was ich bisher über russische Volksmusik gewußt hatte. Am meisten waren wir in Südrußland, in der Gegend um den Don. Eine Gegend mit sehr, sehr alten slavischen Traditionen. Es gibt dort auch einen starken iranischen Einfluß in der Musik.

Sie haben die dort gefundenen Songs neu arrangiert?

Ich habe versucht, in einem bestimmten Stil zu improvisieren. Ich habe nie etwas davon aufgezeichnet, sondern nur versucht zu lernen, wie man in diesem Stil denkt, wie man ihn vorträgt, wie man ihn fühlt.

Gibt es in den Dörfern Chöre?

Es gibt keine festen Chöre, die Leute kommen aber zusammen und singen. Sie glauben, daß sie mit der Natur sprechen können, indem sie singen. Es ist nicht einfach nur Musik für sie, es ist auch eine Art Ritual. Dabei ist es ziemlich komplizierte Musik, polyphone Musik, reine Improvisation und oral überliefert, wie musikalisches Sprechen.

Was ist der Unterschied zwischen dieser und der konventionellen Art zu singen?

Zuerstmal ist es laut. Es ist Musik für den freien Raum und nicht für die Konzerthalle. Es kann von vielen Leuten gesungen werden und jeder kann dabei seine eigene Melodie singen und es wird zusammenpassen. Diese Art zu singen hat einen hohen Anteil hoher Frequenzen. Die Struktur der Skalen ist nicht wie bei der akademischen Musik, die vom tiefen Register ausgeht und Harmonien nach oben aufbaut, sondern hier ist es umgekehrt. Das ergibt ein völlig anderes, mikrotonales Musiksystem. Wir haben versucht, es zu erforschen, aber von manchen Skalen aus Nordrußland beispielsweise wissen wir immer noch nicht, wie sie zu bilden sind. Die haben zum Beispiel sechs verschiedene „e“s, und wir kennen immer noch nicht die Regel dahinter. Gespräch: step

Auftritt: heute, 20.00 Uhr,

im Überseemuseum