Rostock hat seinen zweiten Skandal. Einer der Stadtoberen machte sich daran, den Unterschied zwischen Juden und Deutschen wieder einmal klarzumachen. Am Beispiel von Ignatz Bubis. Deutsche Juden sollen wieder Fremde werden.

Anti- semitismus salonfähig?

Sprengstoffanschlag auf das Mahnmal an der Berliner Putlitzbrücke, Brandanschlag auf die jüdische Baracke in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen, Friedhofsschändungen in vielen Orten Deutschlands, mit telefonischen Beleidigungen und Drohbriefen überhäufte jüdische Gemeinden, Parolenschmierereien im öffentlichen Straßenbild und nun die Ausgrenzung des höchsten Repräsentanten der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, aus der nationalen Zugehörigkeit. Ist der militante und ideologische Antisemitismus auf die politische Bühne zurückgekehrt?

Das ist noch nicht entschieden. Aber jetzt kommt es darauf an, daß sich Politik, Gesellschaft, Medien und die liberale Öffentlichkeit auf die Grundwerte unserer demokratischen Kultur besinnen und sich diesen Entwicklungen energisch entgegenstellen. Skepsis ist allerdings angesagt, ob tatsächlich die Dimension der Gefahr, die zuerst die Ausländer allgemein, dann die Sinti und Roma und nun auch die Juden bedroht, wirklich erfaßt wird und ob der politische Wille vorhanden ist, den fremdenfeindlichen und antisemitischen Angriffen energisch zu widerstehen.

Die Reaktionen der Spitzenpolitiker auf die Gewaltwelle gegen Ausländer in diesem Land begründen Zweifel, ob unsere politische Klasse die Lektion aus der nationalsozialistischen Katastrophe gelernt hat. Eine demokratische Gesellschaft muß in der Lage sein, mit einem gewissen Prozentsatz von antidemokratischen, fremdenfeindlichen und antisemitischen Einstellungen umzugehen. Wenn allerdings, so wie in den letzten Jahren, dieses Potential ohne sichtbare Gegenwehr sprunghaft ansteigen konnte, dann ist die Stabilität der demokratischen Ordnung gefährdet. Diese Entwicklung hin zur Krise scheint man nicht begreifen zu wollen.

Der Ausbruch von Fremdenfeindlichkeit, der in den Pogromen von Hoyerswerda, Rostock und anderswo gipfelt, ist beileibe nicht nur eine spontane Reaktion auf die tiefe soziale und ökonomische Krise, die auf den Zusammenbruch des DDR-Sozialismus folgte. Die bereits in der alten Bundesrepublik ansteigende Zahl rechtsextremer Kriminalität ist nur die Spitze dessen, was schon lange zu beobachten war: der alltägliche Terror gegenüber Fremden, die am Arbeitsplatz, in der Schule, in der Öffentlichkeit beschimpft, bedroht und brutal dazu aufgefordert werden, dieses Land zu verlassen.

Mittlerweile arbeiten gewalttätige Rechtsextreme daran, ihre Parole „Ausländer raus!“ in die Praxis umzusetzen. Diesem Handeln liegt eine Ideologie zugrunde, die in den letzten Jahren rezipiert und massenhaft verbreitet wurde. Bestandteile dieser Ideologie waren zunächst die Fremdenfeindschaft, die Legitimation der Gewalt, das Propagieren antidemokratischer Führerstaatsmodelle. Sie umfaßt zunehmend auch den Antisemitismus in seiner politischen Funktion, nämlich die demokratische Ordnung der Bundesrepublik, ihr liberales Gesellschafts- und Geschichtsbild und ihre Wiedergutmachungsleistungen als Folge einer „jüdischen Umerziehungskampagne“ zu diffamieren.

Aus dieser ideologischen Zielrichtung heraus erklären sich die Angriffe auf Juden, vor allem auf ihre prominenten Repräsentanten, und die Versuche, die in Gedenkstätten materialisierte Erinnerung an die deutschen Verbrechen zu beseitigen. Die Anstrengungen, historische Realitäten zu leugnen, wie es in der Propaganda von der „Auschwitz-Lüge“ geschieht, das Bemühen, Beweise und Argumente gegen den Mord an sechs Millionen Juden zu konstruieren, sind ebenso wie die Angriffe auf Mahnmale und Gedenkstätten Versuche, die deutsche Geschichte zu „entkriminalisieren“. Das haben auch die „Republikaner“ im Programm.

Ein Vergleich mit der Situation in der alten Bundesrepublik in den 70er und 80er Jahren macht die Funktion und die Verbreitung des militanten Antisemitismus heute deutlich. Vorurteile gegen Juden waren verbreitet, aber öffentlich diskreditiert und auf den privaten Bereich der kleinen Öffentlichkeit am Stammtisch, bei Nahestehenden und in der Familie abgedrängt. Der ideologische Antisemitismus war auf subkulturelle, isolierte Gruppen und Grüppchen begrenzt. Dort wo Antisemitismus sich manifestierte, wertete die liberale Öffentlichkeit derartige Vorfälle als Skandal. Mit dem Rechtspopulismus seit Anfang der 80er Jahre wird der Antisemitismus als integraler Bestandteil dieser rechten Weltanschauung mitgeführt, in den Wahlkämpfen aggressiv eingesetzt und insgesamt enttabuisiert.

Gleichzeitig nahm die soziale Kontrolle gegenüber solchen Bestrebungen ab, so daß sich die politische Achse der Bundesrepublik nach rechts verschoben hat. Ein nationalsozialistisches Weltbild, das reaktionäre Utopien von völkischer Homogenität miteinschließt und auf seiner Gegenseite Fremdgruppen, vor allem die Juden, diskriminiert, ist zunehmend gesellschaftsfähig geworden. Die gewalttätigen Gruppen sind lediglich der militante Flügel einer neudeutschen Bewegung, die noch die alte ist.

Die Ausgrenzung, die der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland in Rostock erfuhr, ist nicht nur ein Zeichen für den unsensiblen Umgang mit der jüdischen Minderheit: Man mutet den Juden zu, alles das zu vergessen und als unabänderlich vergangen abzutun, was ihnen und ihren Angehörigen an Ausgrenzung, Demütigung und Diskriminierung widerfahren ist. Die Nationalsozialisten verwendeten viel Mühe darauf, die deutschen Juden zu Fremden zu machen, durch Propaganda, Diffamierung, Gesetze und Verordnungen. Der Unterschied zwischen „Deutschen“ und „Juden“ mußte erst herausgearbeitet werden, dieses Geschäft besorgten die Antisemiten. Es war die Vorarbeit für die Deportationen in die Vernichtungslager. Darüber muß man sich im klaren sein, wenn man die Frage nach „der Heimat“ deutscher Juden stellt. Rainer Erb, Juliane Wetzel,

Wolfgang Benz

Prof. Benz ist Leiter, die beiden anderen Autoren sind Mitarbeiter des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin