Kamera in einer, Stein in der anderen Hand

Lateinamerikanische Filme im Columbus-Jahr  ■ Von Bettina Kocher

Mexiko im 16.Jahrhundert. Die Herrschaft wird von der spanischen Krone und der Kirche ausgeübt, beide dulden keinen Zweifel an ihrer Macht. Um die Indios für die Zwangsarbeit, die im Zeichen des Kreuzes stattfindet, gefügig zu machen, werden sie mit Waffengewalt zur Bekehrung zum Christentum gezwungen. Ketzerei wird mit dem Tode bestraft. Doch die Indios sind nicht bereit, ihren eigenen Glauben aufzugeben. Als der spanische Priester Fray Pedro entdeckt, daß die Indios in der Kirche seines Klosters nur deshalb vor den Statuen der Heiligen niederknien, weil in den Falten ihrer Gewänder die Bilder indianischer Gottheiten verborgen sind, faßt er den Plan, ihre Frömmigkeit auszunutzen, um den drohenden Volksaufstand zu verhindern. Er zwingt Manuel, der als bekehrter Indio im Kloster lebt, ein Heiligenbild anzufertigen, „das einer Indianerin ähnelt, aber von den Spaniern gesegnet ist“. Manuel erfüllt den Auftrag, da auch er ein Blutvergießen vermeiden will.

„Nuevo Mundo – Neue Welt“ heißt der Film, in dem der mexikanische Regisseur Gabriel Retes die enge Verbindung zwischen Macht und Kirche im Amerika der Conquista thematisiert und die Entstehungsgeschichte der Heiligen der Indios, die entscheidend zur Verbreitung des Christentums beigetragen hat, demystifiziert. Der Maler Manuel, die junge Indianerin, die ihm für seine Version der Heiligen Jungfrau Modell stand, und Fray Pedro werden ermordet, um jeden Zeugen für den Betrug an den Indianern zu beseitigen.

Der Film entstand bereits 1976 und war damals eine der größten und aufwendigsten Produktionen Mexikos. Daß er erst heute in den Kinos zu sehen ist, beschreibt Gonzalo Lora, Präsident der mexikanischen Vereinigung der Film- und Videokooperativen, als reinen Zufall. Da der Film von der staatlichen Gesellschaft Conacine koproduziert worden war, lag auch der Verleih in den Händen des Staates. „Die Schwester des damaligen Präsidenten López Portillo war Leiterin des für Film und Fernsehen zuständigen Ministeriums, und die Darstellung der Conquista und der Kirche aus der Sicht der einheimischen Bevölkerung paßte ganz und gar nicht in ihr Konzept.“ Der Film wurde zwar nicht verboten, war aber einer anderen Form von Zensur ausgesetzt: da Zuschauerquoten und Einspielergebnisse entscheidend für die Weiterverbreitung eines Films waren, wurde er bereits nach zweimaliger Vorführung in einem völlig abgelegenen Vorstadtkino Mexikos als angeblich unrentabel abgesetzt. Erst 1991, nach der Auflösung von Conacine, hatte Gabriel Retes zusammen mit der Filmkooperative Rio Mixcoac die Möglichkeit, die Rechte an dem Film, von dem niemand wußte, ob er überhaupt noch existierte, zurückzuerwerben. So konnte der Film im August dieses Jahres erstmals auch in deutschen Kinos gezeigt werden.

„Nuevo Mundo“ ist Bestandteil einer Filmreihe, die von SurFilms Köln in Kooperation mit der Stiftung des Neuen Lateinamerikanischen Films zusammengestellt wurde und Filme lateinamerikanischer FilmemacherInnen unterschiedlicher Genres und Themen enthält. 1992, das Jahr der 500jährigen Eroberung des amerikanischen Kontinents, diente als Anlaß – jenseits von Filmen wie „1492“, der die nur allzu bekannte Legende von Kolumbus als enthusiastisch selbstlosem Entdecker reproduziert – lateinamerikanische Geschichte und Realität darzustellen, wie sie sich im Filmschaffen unabhängiger FilmemacherInnen des Kontinents widerspiegelt.

Erst in jüngster Zeit sind wieder Filme entstanden, die die Zeit der Conquista thematisieren. „Cabeza de Vaca“ (1989), ein Film des mexikanischen Regisseurs Nicolas Echevarria, und der venezolanische Film „Jericó“ (1990) von Luis Alberto Lamata stellen Rekonstruktionen von Ereignissen des frühen 16.Jahrhunderts aus lateinamerikanischer Sicht dar. Alvar Nuñez Cabeza de Vaca, spanischer Conquistador, wird nach einem Schiffbruch von Indianern gefangengenommen und verbringt acht Jahre mit ihnen; Pater Santiago, der unermüdliche Bekehrer aus „Jericó“ wird, wenn auch unfreiwillig, in die indianische Gemeinschaft aufgenommen und lebt in ihr als einer unter Gleichen. Wenn auch in sehr unterschiedlicher Umsetzung, so bieten beide Filme doch den Entwurf der Begegnung zweier Kulturen, wie sie sich zu Beginn der Kolonisation ereignet haben mag. Die sich überlegen fühlenden Europäer lernen im Zusammenleben mit den Indianern eine andere Kultur kennen und erstmals die eigenen Werte zu hinterfragen. Sie wissen aber, daß die Spanier, die ihre Angst vor dem Fremden hinter Waffen verbergen, auch in die entlegensten Gebiete vordringen und sie zerstören werden. Pater Santiago wird, nachdem seine Familie getötet wurde, den Verstand verlieren. „Cabeza de Vaca“ endet mit einem anderen Symbol der Machtergreifung, indem ein überdimensionales Kreuz von versklavten Indianern zum militärischen Schlag einer Trommel durch eine leere Wüste getragen wird.

Als Ende der sechziger Jahre der lateinamerikanische Film erstmals auch in Europa größere Aufmerksamkeit erregte, faszinierte und schockierte er durch den offenen Anspruch, sozial verändernd eingreifen zu wollen und den Film selbst als Akt der Befreiung anzusehen, der „mit der Kamera in der einen und einem Stein in der anderen Hand“ entsteht. Auch theoretisch schlug sich diese Neudefinition des lateinamerikanischen Films nieder. Der Kubaner Julio Garcia Espinosa formulierte sein Essay „Für ein nicht perfektes Kino“. „Für ein Drittes Kino“ plädierten unter anderen Fernando Solanas und Octavio Getino aus Argentinien, und das brasilianische „Cinema Novo“, geprägt von Filmemachern wie Glauber Rocha und Nelson Pereira dos Santos, verstand sich als ästhetisch wie auch inhaltlich erster Versuch, eine eigenständige Filmkultur zu schaffen, die die eigene kulturelle Identität widerspiegeln sollte.

Das Cinema Novo als Ausdruck einer Zeit des Aufbruchs und der Neuorientierung existiert heute als wichtige historische Epoche. Neue Strömungen, aber auch Notwendigkeiten lassen eine solche einheitliche Bestimmung des Filmschaffens eines Landes nicht mehr zu. Gerade in Brasilien ist eine Neubestimmung überlebensnotwendig geworden, nachdem Präsident Collor de Mello kurz nach seinem Amtsantritt 1990 das staatliche Filminstitut Embrafilme auflöste. Konnten 1980 in der Hochzeit der staatlichen Filmsubvention noch an die hundert Filme in Brasilien entstehen, so wurde 1990 nur noch ein einziger Spielfilm realisiert. Koproduktionen mit dem brasilianischen Fernsehen – immerhin ist Globo eine der größten Fernsehanstalten der Welt – finden nicht statt.

Doch auch in anderen Ländern ist die Situation schwierig, was die staatliche Unterstützung und Finanzierung nationaler Filmproduktionen angeht.

Hinzu kommt, daß der Konkurrenzdruck durch US-amerikanische Filme in den lateinamerikanischen Kinos und die Medienflut, die via Satellit den ganzen Kontinent überschwemmt, in ästhetisch inhaltlicher Hinsicht zur Produktion durchschnittlicher Unterhaltungsware geführt hat, das Publikum Unterhaltung à la Hollywood den einheimischen Produktionen außerdem vorzieht, so daß die heimischen Märkte oftmals verschlossen bleiben.

Eine Ausnahme stellt in dieser Hinsicht der Film „Macú, die Frau des Polizisten“ (1987) dar, der in Venezuela selbst Kassenschlager wie „E.T.“ oder „Superman“ überflügelte. Angeregt wurde die Regisseurin Solveig Hoogesteijn durch einen Fall, der in der Presse für Aufregung sorgte. Ein Polizist war des mehrfachen Mordes an jungen Männern angeklagt, die er verdächtigte, mit seiner Frau ein Verhältnis zu haben. Während in den Zeitungen jedoch hauptsächlich von der Korruption innerhalb der Polizei die Rede war, die dazu führte, daß der Mörder jahrelang unentdeckt blieb, versucht Solveig Hoogesteijn, den „Fall“ aus der Sicht von Macú nachzuvollziehen. Gerade elf Jahre alt wird Macú mit Billigung ihrer Mutter und Großmutter von dem zwanzig Jahre älteren Ismael verführt und zur Heirat gezwungen. Aus der Sicht der älteren Frauen, die ihre Familie ohne Männer durchbringen mußten, hatte Macú alles erreicht: die Ehe mit einem Mann in angesehener Stellung, der ihr ein sorgenfreies Leben ermöglichte. Mit 24 selbst Mutter zweier Kinder, sehnt sie sich nach dem Kontakt mit Gleichaltrigen, den ihr der eifersüchtige Mann verbieten will. Als ihr Freund Simón und zwei seiner Gefährten plötzlich verschwunden sind, ahnt sie, daß ihr Mann sie umgebracht hat. Auch die Nachbarn schöpfen Verdacht, doch richtet sich ihr Zorn in erster Linie gegen Macú, die sich nicht wie eine sittsame Hausfrau verhalten kann. Noch einmal im Haus ihrer Mutter und Großmutter, wird ihr bewußt, daß sie von ihnen für ein bißchen materielle Sicherheit verkauft wurde. Und als sie ihre Familie verläßt, weiß sie, daß sie von nun an auf sich alleine gestellt sein wird.

Daß dieser Film zu einem solchen Publikumsmagneten werden konnte, liegt sicher zum einen an der spektakulären Mordgeschichte, einem in Venezuela vieldiskutierten Fall. Gleichzeitig wird aber eine andere Wahrnehmung der Ereignisse angeboten, die über die übliche Berichterstattung hinausgeht und auf Alltägliches, selbst Erfahrbares verweist. Kino wird so im besten Sinne zum Spiegel der Gesellschaft.

Die Stiftung des Neuen Lateinamerikanischen Films, die im Dezember 1985 gegründet wurde und deren Vorsitz Gabriel Garcia Márquez führt, will die Traditionen des neuen lateinamerikanischen Films aufgreifen und den aktuellen Notwendigkeiten in den Bereichen Produktion und Destribution Rechnung tragen. Als einzige länderübergreifende Filmorganisation stellt auch die Schaffung von Vorführmöglichkeiten für lateinamerikanische Filme in den einzelnen Ländern des Kontinents ein wichtiges Ziel dar. Als „ambitioniertestes“ Projekt der Stiftung wurde ebenfalls 1985 die Film- und Fernsehschule der Drei Welten mit Sitz in Kuba gegründet, durch die die Ausbildung einer jungen Generation von Filmschaffenden nicht nur aus Lateinamerika, sondern auch aus den Ländern Afrikas und Asiens gewährleistet werden sollte.

Trotz der schwierigen wirtschaftlichen Lage, die dazu führt, daß nur noch ein kleiner Teil der ursprünglich vorgesehenen Studierenden pro Jahrgang aufgenommen werden kann, sind damit die Zeichen zum Aufbruch aus der Krise der lateinamerikanischen Films gesetzt.

Fernando Birri, einer der Pioniere des Neuen Lateinamerikanischen Kinos sowie Mitbegründer und langjähriger Leiter der Filmschule der Drei Welten, schrieb einmal: „1950, während meines ersten Exils in Italien, blickte der europäische Intellektuelle auf den lateinamerikanischen Intellektuellen von oben herab. Als Lateinamerika in Mode kam, veränderte sich dieser Blick. Nun war es umgekehrt. Wir akzeptieren keinen dieser beiden Blicke. Als Künstler und Intellektuelle, Männer und Frauen Lateinamerikas akzeptieren wir weder einen herabwürdigenden noch einen bestaunenden Blick. Was wir suchen, ist ein gleichwertiger Blick von Mensch zu Mensch.“

Das Programm „500 Jahre Entdeckung, Eroberung, Widerstand – ein Lateinamerika-Filmprogramm fürs Kino“ von Con-Film ist zur Zeit in mehreren Städten zu sehen.