Italiens Reform-Stotterer

Im Stop-and-go-Verfahren suchen die Parteien Verjüngung und Modernisierung – aber ohne viel zu ändern/ „Ligen“ und „Reformbewegung“ im Nacken, aber auch sie ohne Konzept  ■ Aus Rom Werner Raith

Einig sind sich alle, alle: „Wir brauchen eine Reform an Haupt und Gliedern“ (so der neue christdemokratische Parteisekretär Mino Martinazzoli), „eine gründliche Wende im Parteiwesen“ (Sozialistenchef Bettino Craxi), „eine Totalabkehr vom Bisherigen“ (wie immer besonders vollmundig Linksdemokraten-Führer Achille Occhetto), ja ein „völlig anderes Verhältnis von Bürgern und Parteien“ (Republikaner-Vorsitzender Giorgio La Malfa). Doch wie derlei aussehen oder an welcher Stelle man beginnen soll, das ist die große Frage.

Muß man zuerst die alten Polit- Panzer vom Schlage des Giulio Andreotti in Pension schicken? Schließlich regieren sie seit vierzig Jahren ununterbrochen. Oder soll man lieber das Wahlrecht ändern, um weniger Parteien im Parlament zu haben? Oder ist zunächst eine gründliche Wirtschaftsreform dran, aus der sich neue Führungsschichten ergeben könnten? Oder muß man bei der Kultur ansetzen? Italiens Parteien und politische Gruppen machen derzeit ähnliche Hüpfer und Saltos wie die Lira im internationalen Währungsgefüge: Tendenzen sind da, aber auch die gegenläufigen, und Richtung ist keine auszumachen.

Heftige innere Kritik an Sozialistenchef Craxi

Diese Woche will es, nach mehrmaligen Anläufen, erneut die Sozialistische Partei versuchen. Bettino Craxi, 58, gebeutelt durch Stagnation bei der Parlamentswahl im April und seither in Lokal- und Regionalwahlen mit seiner Partito socialista in freiem Fall, möchte um keinen Preis seinen Posten als Vorsitzender abgeben. Doch genau das will sein Herausforderer Claudio Martelli, 49, durchsetzen: Er verlangt die „Auswechslung der gesamten Führungsmannschaft der PSI“.

Seiner Ansicht nach ist sie verantwortlich für ein Desaster ohnegleichen: Der Aufstieg der norditalienischen „Ligen“, die mit Antipartei-Parolen den Sozialisten örtlich mittlerweile mehr als die Hälfte der Stimmen wegnehmen, sei zu stoppen gewesen, hätte Craxi nur im Vorjahr vorgezogene Neuwahlen angestrebt. Die Aufdeckungen von Schmiergeldaffären und Korruptionsskandalen, die sich immer mehr ausbreiten, sei völlig falsch behandelt worden. Und die mittlerweile nicht mehr zu leugnende Kraft überparteilicher Bewegungen wie etwa der zur Verfassungsreform (Movimento popolare per la riforma) werde völlig unterschätzt.

Alle Parteien stecken in der Krise

Craxi, dem selbst engste Freunde mittlerweile das Abhandenkommen jeglichen politischen Instinkts bescheinigen, will nun im Nationalrat – eine Art kleiner Parteitag – seine Truppen zählen und nachsehen, ob er seine Gegner nicht im letzten Augenblick noch spalten kann: In diesem Falle hätte er noch Zeit bis zum Parteikongreß im Frühjahr, seine Mannschaft wieder auf Vordermann zu bringen.

Doch seine Gegner sind davon nicht mehr sonderlich zu beeindrucken: Ganz unterschiedliche Charaktere wie der schlitzohrige ehemalige Finanzminister Rino Formica, der eher graumäusige frühere Generalintendant des staatlichen Rundfunks RAI und der ehemals durch Craxi ganz ins Abseits gestellte Parteilinke Claudio Signorile sind sich mit Justizminister Martelli, dem einzigen „Kronprinzen“ des Chefs, einig: Craxi muß weg.

Der Hebel dafür ist die Auseinandersetzung um das neue Wahlgesetz: Im Nacken sitzt den Sozialisten dabei die vom christdemokratischen Politiker Mario Segni– in offenem Dissens übrigens auch zu seiner eigenen Partei – gegründete Reformbewegung. Die will über Volksabstimmungen zu radikalen Änderungen im italienischen Wahlsystem kommen und hat bereits im Vorjahr mit einem überwältigend hoch angenommenen Referendum die Regierungsparteien das Fürchten gelehrt. Craxi sucht nach einem Modus, der seine Hausmacht – die Bildung eng an den Führer gebundener Seilschaften oder Allianzen – begünstigt und gleichzeitig die kleinen Parteien aus dem Parlament drängt. Martelli setzt dagegen darauf, mit Hilfe des Wahlrechts regierungsfähige Mehrheiten zu garantieren und dabei auch den – in Italien seit Kriegsende niemals stattgefundenen – Wechsel zwischen Regierung und Opposition zu erleichtern.

Doch so einig sich die Nachrücker in der Forderung nach Ausschaltung Craxis und seiner Palladine wie etwa des umstrittenen ehemaligen Außenministers Gianni De Michelis (neuerdings Partei-Vize) sind: Die Rechnung müssen sie nicht nur mit ihrem zähen und machthungrigen Chef machen, sondern auch mit der Tatsache, daß alle möglichen Koalitionspartner in nahezu der gleichen Krise wie die Sozialisten stecken.

Christdemokratisches Hauruck-Verfahren versandete

Die Christdemokraten, seit dreißig Jahren in Koalition mit der PSI, haben zwar vor zwei Wochen im Hauruck-Verfahren einen neuen Sekretär per Akklamation gekürt. Doch mit dem 62jährigen Mino Martinazzoli waren in diesem Moment alle nur deshalb einverstanden, weil er im Vorstand der einzige ist, der nicht selbst oder über enge Gefolgsleute in Korruptionsermittlungen verwickelt ist. Dasselbe gilt für die Mitte letzter Woche von ihm ebenfalls per Akklamation durchgesetzte Parteipräsidentin Rosa Russo Jervolino. Doch dann war der Schwung auch schon wieder dahin.

Als Martinazzoli versuchte, die ihm angeblich übergebene „absolute Vollmacht“ zu nutzen und den Parteirat umzubesetzen, präsentierten ihm die abgetretenen Flügel-Vormänner eine von ihnen ausgemauschelte Liste, und als er die nicht wollte, war Schluß. Martinazzoli mußte, um überhaupt arbeiten zu können, einen eigenen, bisher im Statut nicht vorgesehenen „Mitarbeiterstab“ ernennen– womit er genau jenem Prinzip zuwiderhandelte, das er als unabdingbar für seine Wahl bezeichnet hatte, nämlich einen radikalen Abbau der Organe und Funktionärsstellen.

Ähnlich zerrissen ist auch die größte Oppositionspartei, die „Partito democratico della sinistra“ PDS: Ihr Chef Occhetto hat sich zum „Eintritt in die Regierung in jedem Moment“ bereit erklärt– worauf der linke Parteiflügel offen seinen Dissens erklärte. Occhetto mußte eiligst abwiegeln und brummelte etwas von einer „zusammenzustellenden Allianz aus allen fortschrittlichen Kräften“ – was allseits herzliches Gelächter auslöste, denn genau das ist der Slogan der „Reformbewegung“, mit der Occhetto aber wiederum „allenfalls partiell zusammenarbeiten“ möchte.

Leicht hat die PDS es aber tatsächlich nicht: Ein Versuch des Partei-Vize Massimo D'Alema, zusammen mit dem ebenfalls oppositionellen Leiter der industrienahen Republikanischen Partei und Craxi-Gegner Claudio Martelli von der PSI vor den letzten Provinz- und Gemeinderatswahlen in Mantua eine „Linksunion“ zu präsentieren, ging weit daneben. Die Union bekam nicht einmal 20 Prozent.