Die Charta 77 stellt ihre Arbeit ein

■ Die tschechische Menschen- und Bürgerrechtsorganisation sieht ihre historische Mission als erfüllt an – vielleicht zu früh

Berlin (taz) – Angefangen hatte alles mit psychedelischem Rock, langen Haaren und Sprüchen, die mit den realsozialistischen Vorstellungen von Ordnung und Anstand nicht zu vereinbaren waren. Angefangen hatte alles im Jahre 1976 mit einem Prozeß gegen die Prager Musikgruppe „Plastic People of the Universe“. Damals waren es nicht nur die jugendlichen Rockfans, sondern vor allem die alte Garde der seit Ende des Prager Frühlings in Ungnade geratenen Politiker, Schriftsteller, Wissenschaftler, die gegen die zum Teil mehrjährigen Haftstrafen für die Bandmitglieder protestierten. Obwohl, so der Philosoph Jan Patocka, er mit der Musik nichts anfangen könne, ginge es nun darum, die Freiheit, auch solche Musik machen zu können, zu verteidigen. Denn schon morgen könnte das Regime dann den nächsten Schritt, das nächste Verbot folgen lassen. Der Gedanke für die Verfassung einer „Charta 77“ war geboren.

Als der Gründungsaufruf der Bürgerrechtsbewegung am 1.1.1977 schließlich veröffentlicht wurde, lagen hinter den „Sammlern“ der Unterschriften von 242 Erstunterzeichnern aufregende Tage. Mit dem ganzen Geschick konspirativer Arbeiter war es den Männern – und einigen wenigen Frauen – um Václav Havel gelungen, den mehrseitigen Text vor der Geheimpolizei geheimzuhalten und zugleich für seine rechtzeitige Veröffentlichung auch im Ausland zu sorgen. Erst als sie sich daran machten, die Unterschriften an verschiedene tschechoslowakische Regierungsstellen zu versenden, wurden sie in einer wilden Verfolgungsjagd mit der Polizei schließlich gestellt und festgenommen.

Diese Festnahmen sollten nicht die letzten in der nun zu Ende gehenden 16jährigen Geschichte der Charta 77 sein. Obwohl die Unterzeichner stets darauf hinwiesen, mit ihren Appellen „lediglich“ die Einhaltung der auch in der tschechoslowakischen Verfassung garantierten Menschen- und Bürgerrechte zu fordern und es entschieden ablehnten, als „oppositionelle Organisation“ bezeichnet zu werden, wurden nicht nur Václav Havel, sondern auch unzählige andere zu Gefängnisstrafen verurteilt. Jan Patocka starb am 13.3.1977 an den Folgen „intensiver“ Verhöre.

In den folgenden Jahren sollte sich die Charta 77 zur wichtigsten Bürgerbewegung der ČSSR entwickeln. Sie war es, die bereits 1983 über die Umweltzerstörung und ihre Folgen informierte, sie war es, die gegen die Romapolitik der Prager Regierung, gegen das Kriegsrecht in Polen protestierte. Sie war aber auch die Gesprächspartnerin der westlichen Friedensbewegung. Mit ihren ständigen Hinweisen auf die Bedeutung der Menschenrechte hat sie es den Vertretern von „Lieber rot als tot“ zu Recht nicht immer leicht gemacht.

Doch die starke Außenwirkung der Charta 77 war zugleich ihre Schwäche. Da die Regierung versuchte, die Unterzeichner ins Ausland abzuschieben, wurde die Unterschrift unter die Charta für viele „Unpolitische“ zum Sprungbrett in den Westen. Da durch die Arbeit für die Charta häufig nicht nur der Unterzeichner, sondern seine ganze Familie in Mitleidenschaft gezogen wurde, verwandelte sie sich immer mehr in ein Ghetto. Nicht wenige Aktivisten forderten deshalb eine Änderung der Tätigkeit. Der spätere tschechische Ministerpräsident Petr Pithart war es, der mit dem Konzept der „kleinen“ – und ungefährlicheren – Arbeit breite Schichten der Bevölkerung am Aufbau einer „Bürger- Gesellschaft von unten“ beteiligen wollte. Daß dies nicht gelang, hat zum Scheitern derjenigen Politiker beigetragen, die als führende Köpfe der Charta im Jahr 1989 zu den Helden der „samtenen Revolution“ wurden. Das schlechte Gewissen, sich zwanzig Jahre in die unpolitische Datscha-Nische zurückgezogen zu haben, ließ viele TschechInnen zu Anhängern des heutigen Ministerpräsidenten Václav Klaus werden. Der Ökonom, dem das System nie einen größeren Stein in den Weg gelegt hatte, hatte sich noch im Frühjahr 1989 geweigert, eine Petition für den wieder einmal inhaftierten Václav Havel zu unterzeichnen.

Das Ende der Charta 77 hat jedoch nicht nur mit dem Wechsel vieler Unterzeichner in die Tagespolitik zu tun. Zugleich fiel es der Bewegung schwer, in der neuen Zeit eine neue Orientierung, eine neue Aufgabe zu finden: die Einhaltung der Bürger- und Menschenrechte schien nun gesichert.

Hinzu kam die ideologische Spaltung der Unterzeichner. Während jahrelang überzeugte Katholiken mit nicht weniger überzeugten Reformkommunisten zusammengearbeitet hatten, wurden aus ihnen nun Parteipolitiker, die sich im Parlament aufs heftigste befehden. Angesichts der zunehmenden Einschränkung der Pressefreiheit in der Slowakei, angesichts der polizeilichen Verfolgung, der gesellschaftliche Randgruppen in Böhmen ausgesetzt sind, könnte die nun geäußerte Freude über die „Erfüllung der historischen Mission der Charta“, verfrüht sein. Sabine Herre