Bonn baut auf, Berlin speckt ab

Der Regierungsumzug kommt voran – doch leider in die falsche Richtung/ „Stellt euch vor, der Reichstag ist fertig und keiner zieht ein!“ alpträumt Senator Volker Hassemer  ■ Aus Bonn Hans-Martin Tillack

Bonn (taz) – Nichts zu merken von einem Umzug zwischen Berlin und Bonn? Gar nicht wahr. Jüngste Zahlen der Stadt Bonn belegen: seit dem Umzugsbeschluß des Bundestages am 20. 6. 1991 sind zwischen den beiden Städten 1.544 Menschen umgezogen – mit einem klaren Trend nach Bonn. 551 zogen von Bonn nach Berlin, 993 von Berlin nach Bonn. Daß die Immobilienpreise in Bonn nach einem kurzen Einbruch inzwischen wieder klettern, liege zu einem Gutteil an den Zuzüglern aus Berlin, erläutert Werner D'hein, der Sprecher der Stadt Bonn. In Berlin, so ist bei Umzugsfirmen zu hören, halten die Möbeltransporter vor allem vor den Plattenbauten in Hellersdorf, Hohenschönhausen und Marzahn, um den Hausstand von Ostberlinern in Empfang zu nehmen, die nach Bonn wechseln, um dort die Bundesministerien zu verstärken.

Während alle Welt vom Umzug nach Berlin redet, wird dort in Wahrheit immer noch abgewickelt. Die Berliner Vertretung des Kanzleramtes beispielsweise beschäftigte bei der Übernahme des DDR-Regierungsapparates 700 Mitarbeiter. Heute sind es noch 15. „Vier oder fünf“ Mitarbeiter, so ein Beamter der Dienststelle, habe man an den Rhein geschickt. Die Stadt Bonn sichert sich im Wettbewerb mit Berlin unterdessen bereits Ausgleichsinvestitionen – zum Beispiel die Generaldirektion der Telekom – und kassiert erste Ausgleichszahlungen für den Verlust der Hauptstadtfunktion, die in Bonn tatsächlich immer noch ausgebaut wird.

Niemand protestierte lauthals, als der Haushaltsausschuß des Bundestages letzte Woche einstimmig einen Neubau bewilligte, der mindestens bis zum Jahr 2000 die Bundestagsverwaltung aufnehmen soll. Wer den Ausschußvorsitzenden Rudi Walther fragt, wie das denn mit dem Bundestagsbeschluß zu vereinbaren sei, spätestens 1998 umzuziehen, ist in dessen Augen einfach fürchterlich naiv: „Wer immer glaubt, man könne den Bundestag in Berlin in zehn Jahren bauen, der irrt“, donnert der Sozialdemokrat. Was da der Bundestag am 20. Juni 1991 über die Fristen beschlossen habe, das sei schlicht „Quatsch“.

So kann man in Bonn inzwischen öffentlich den Parlamentsbeschluß ins Lächerliche ziehen, ohne daß selbst der Berliner Senat laut aufschreit. Richtig böse wird Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen nur dann, wenn man ihn fragt, ob das Hauptstadtversprechen nicht doch eine „Hauptstadtlüge“ sei. Nein, das sei alles eine Erfindung „verantwortungsloser Journalisten“, schimpft der Senatschef. Spätestens in zehn Jahren, da sei er sich sicher, sei das Kanzleramt in Berlin. Punkt.

Als ob der Umzugsbeschluß nie gefallen wäre, beklagen unterdessen Bonner Kommunalpolitiker schon die Unsicherheit in der Hauptstadtfrage, die es so schwer mache, Nachfolgeinstitutionen an den Rhein zu holen. In dieser Legislaturperiode sei der Beschluß zwar „mit Sicherheit“ nicht mehr zu kippen, erkennt der Siegburger CDU-Bundestagsabgeordnete und Fraktionsvorständler Adolf Herkenrath. Aber es sei doch interessant, „daß immer mehr Menschen bereit sind, darüber nachzudenken“.

Zu diesem Stimmungswandel trägt vor allem die Aussicht auf mehrere Jahre der Steuererhöhungen und Sozialkürzungen kräftig bei. Die Boulevardblätter in Bonn und Köln putschen ihre Leser gerade jetzt mit neuen Meldungen über angebliche Milliardenkosten des Umzugs auf – mit Zahlen von 53 bis 70 Milliarden, die selbst von den Bonner Ministerialbeamten als falsch abgetan werden. Die Bonner Umzugskritiker lassen sich davon nicht beirren. Belasten die Neubauten in Berlin den Bundeshaushalt wirklich nur mit Kosten von 13,2 Milliarden, verteilt über zehn Jahre, wie das die Bundesregierung offiziell feststellte? Könnten sich die Gesamtkosten einschließlich der Ausgleichszahlungen für Bonn auf 30 bis 40 Milliarden über 20 Jahre belaufen, wie man im Berliner Senat vermutet? Oder behalten doch die Demonstranten auf dem Bonner Marktplatz recht, die ihre Mitbürger immer noch jeden Donnerstag mit der Zahl von 200 Milliarden Mark erschrecken?

Noch ist das nicht endgültig entscheidbar. Denn während im Bonner Regierungsviertel überall die Kräne in den Himmel ragen, ist an der Spree noch kein einziger Stein auf den anderen gesetzt worden. Wegen des großen Andrangs der Architekten erst im Februar, nicht wie geplant im Dezember, werden die Jurys die Ergebnisse der Wettbewerbe für die Neubauten im Berliner Spreebogen und den Umbau des Reichstages präsentieren. Dann, so fürchten auch manche im Berliner Senat, könnte die Diskussion erst richtig losgehen: Bekommt der Reichstag seine Kuppel wieder oder nicht? Wird der Palast der Republik abgerissen, oder bleibt er stehen?

Immerhin: Den Straßentunnel unter dem Berliner Spreebogen wird Bonn jetzt wohl doch „mitfinanzieren“, so verkünden es unisono die Beamten im Bonner Verkehrsministerium und der Berliner Stadtentwicklungssenator Volker Hassemer. Gleichzeitig setzen die Bonner Beamten ihre Suche nach weiteren Hindernissen auf dem Weg nach Berlin zügig fort. Zuletzt erweckten sie den Eindruck, der Umzug könnte ausgerechnet am Berliner Operncafé Unter den Linden scheitern. Erst wenn dessen Auszug gesichert sei, könne man sich über die Standorte der Ministerien einigen, maulten die Bonner Beamten und begründeten das mit einer Art Domino-Theorie: wenn der Bundespräsident neben dem Kronprinzenpalais nicht auch das Opernpalais beziehen könne, ziehe er dort überhaupt nicht ein. Komme Weizsäcker nicht an diesen Standort, werde sich der Außenminister erst recht weigern, in das benachbarte ehemalige ZK-Gebäude am Werderschen Markt zu ziehen, und auf seinem Wunsch beharren, in die Nähe der Wilhelmstraße zu ziehen – dort, wo sich die Berliner aufgrund der Nähe zu Hitlers Reichskanzlei eigentlich nur Ländervertretungen und ein Mahnmal für den Holocaust vorstellen können.

Schienen die Berliner anfangs gewillt, das Operncafé gegen die Bonner Zumutungen zu verteidigen, knickten sie jetzt ein und stellten einen Umzug des Cafés in Aussicht. „Natürlich ist es ein Hürdenlauf“, meint Hassemer. „Aber das heißt ja nichts anderes, als daß es darauf ankommt, die Hürden zu überspringen.“ Daran, daß der Umzug an Berliner Versäumnissen scheitern könnte, mag er überhaupt nicht glauben. Seine Vision: „Stellt euch vor, der Reichstag ist fertig und keiner zieht ein.“ Kleiner Tip: Was wäre mit dem Operncafé? Hans-Martin Tillack