„Ich spüre noch zu viel Berlin in euren Beinen!“

■ Thomas Koerfer verfilmt Gottfried Kellers „Der grüne Heinrich“ – Ein Bericht von den Dreharbeiten in Potsdam

Maskierte treiben sich in den Arkaden herum. Der Haufen lärmt. Geschmückt und drapiert, die Perücken und Roben mal schäbig, mal fein. Fragile Jünglinge stolpern blöde umher. Mägde kicksen, geile Alte pressen zahnlose Böcke zwischen ihre geschnürten Brüste. Es ist spät und doch taghell. Fideln, Rasseln und Klappern, Trompeten und Kuhhörner spektakeln. Ein Feuerschlucker führt tänzelnd den bunten Zug an. Drängeln, toben ohne Unterlaß, immer weiter ums Rund, immer schneller ums Rund. „Aus. Stop. Alle hierher, zu mir. Kommt, kommt. Hierher.“ Die Aufforderung ist unmißverständlich.

Sie kommt von einem Mann mit Megaphon und Parka. Es ist Thomas Koerfer, Filmregisseur aus Bern und Spezialist für Literaturverfilmungen („Der Gehülfe“ nach Robert Walser, „Noch ein Wunsch“ nach Adolf Muschg). Er steht stoisch zwischen den Säulen der Potsdamer Orangerie und versucht 80 Komparsen, darunter ein Pferd, einen Esel und Zweispänner, zu bändigen. Er tut es eindringlich, die Zeit ist kurz, und die Nacht wird nicht wärmer. „Ich spüre noch zu viel Berlin in euren Beinen. Mit Münchner Faschingstreiben von 1842 hat das nichts zu tun.“ Das ist irgendwie zu verstehen.

Drehpause auf dem Set mittenmang der klassizistischen Kulisse. Kameraleute, Beleuchter, Toningenieure, Schauspieler, Statisten und ein Heer von Menschen, deren Funktion durch fortwährend quakende Walkie-talkies definiert ist, strömen auseinander auf die wenigen intakten Heizröhren zu. Für Thomas Koerfer sind die Mitte der Woche abgedrehten Nachtszenen, das „turbulente Karnevalstreiben“, Abschlußaufnahmen seines lang gehegten Projektes: Mehr als acht Jahre ging es ihm durch Kopf und Gemüt, Gottfried Kellers Roman „Der grüne Heinrich“ zu verfilmen. Der Faschingszug bildet den Auftakt seiner Version von Kellers mehrbändigem Entwicklungsdrama.

Ein Mammutprojekt, wie sich herausstellte, das „viele Energien band“. Vor zwei Jahren begann die heiße Phase der Vorbereitung. Gedreht wurde in der Schweiz und in der Eifel, in Bochum und zuletzt in Wittstock. Konzentriert hat sich Thomas Koerfer bei Kellers tödlich endender Geschichte auf den „archaischen inneren Konflikt“ der Hauptfigur. Auf die zentralen Dinge des Lebens also, „Liebe, Leidenschaft, Sex und Tod“, so der Pressetext.

Der Student Heinrich Lee scheitert an der Kunst wie am Leben. Um zwei Frauen drehen sich seine Qualen: Anna, der er seinen ersten kindlichen Kuß verdankt, und Judith, die ihn später noch weiteres lehrt. Der junge französische Schauspieler Thibault de Montalembert spielt die Hauptrolle. Florence Darcel („Frühlingserwachen“, Eric Rohmer) ist die erwachsene Anna, die Spanierin Assumpta Serna („Wilde Orchideen“ mit Mickey Rourke) Judith.

Zehn Millionen Mark wird die Koproduktion der Züricher Condor Productions, der Pariser Osby und der Toro Film Berlin (beteiligt sind unter anderen auch das ZDF, die Filmstiftung Nordrhein-Westfalen mit 2,2 Millionen, die Berliner Filmförderung mit circa 800.000 Mark) am Ende verschlungen haben. Noch ist nicht alles aufgebraucht, weiß Martin Block, Pressebetreuer des „Grünen Heinrichs“. Kostenintensiv wird vor allem die Nachsynchronisation, da die französischen und deutschen Schauspieler in ihren Sprachen spielen. Auf dem Set scheint das kein Problem, alle verständigen sich auf verschiedenste Weisen: Kartenspielen, CDs austauschen und warten, warten auf die nächste Einstellung.

Thomas Koerfer greift wieder zu seinem Megaphon: „Marcel! Wo ist Marcel?“ Der Regieassistent bleibt verschwunden. Dem Chef-Kameramann Gerard Vandenberg fehlt sein kleiner Videobildschirm, die Kostümbildnerin Monika Jacobs wird verzweifelt gesucht – und gefunden. Einer der Komparsen hat das Mundstück seines Kuhhorns verloren. Eine Perücke ist verrutscht, der Gummipenis des Satyr droht im Fell zu verschwinden, und das rote Kardinalskostüm hat einen Riß. Etwa vierzig neue Komparsen mußten heute noch eingekleidet werden. Die Umstände bringen niemanden aus der Fassung.

Ist man da nicht froh, wenn alles endlich vorbei ist? Nein, widerspricht Monika Jacobs sanft, wenn alles vorbei ist, „fällt man erst einmal in ein Loch“. Am besten sei es dann zu verreisen, überlegt sie und zupft eine Vogelmaske zurecht. „Man hört die Straßenschuhe von 1992. Ich finde, das paßt nicht ins Klangbild eines Karnevalszuges von 1842“, tönt ein Statist lautstark aus einer Ecke. „Nebensächliches Problem“, findet der Regisseur.

Bevor die Crew zu nächtlicher Stunde den Schloßpark von Sanssouci heimsuchte, lagerte sie zunächst zehn Tage mit Kabeln und Prospekten (die Filmbauten entwarf Jan Schlubach) in einer Maschinenhalle abseits vor den Toren von Babelsberg. Zu DDR-Zeiten sollten in der Halle Gabelstapler montiert werden, erzählt der rührige Pressevertreter. Mit der DEFA konnte nicht über eine Mietung der Studios verhandelt werden. Während die Treuhand Deutschlands Hollywood samt und sonders veräußerte, „lief gar nichts“, so Martin Block. Der Stillstand dauert an.

Am Set formiert sich wieder der Karnevalszug mit Esel und König auf dem Pferd. Die Musik setzt vom Band ein: „Und bitte jetzt ganz ruhig. Wir drehen. Nach fünfzehn Sekunden kommt ihr. Und los!“ schallt es über den Platz. Plötzlich fällt einem der Komparsen die große Schweinsmaske vom Kopf. Und ein Blech scheppert unvorgesehen. Das sonderbare Treiben der frierenden Gestalten stoppt. Eine endlose Nacht hat unter den Arkaden begonnen. Yvonne Rehhahn