Harmlose Egomanen aus einer anderen Zeit

■ Sternheims „Nebbich“ im Deutschen Theater Berlin

Die Zuschauer sitzen im Elbstromtal. Die Bühne, konzipiert von Lilot Hegi, ist durch eine steile Holzrampe verstellt, auf der drei junge Burschen sitzen und hoch über den sich reckenden Zuschauerköpfen Lieder von Rhein und Wein intonieren – Elbe hin oder her. Was als Bühnenausschnitt oberhalb der Köpfe der Schauspieler verbleibt, hat das Format einer Kinoleinwand.

Aber hier findet deftiges Theater statt, Schauspielertheater, das sich kunstvoll, aber nicht unbedingt geschmackvoll hervortut. Dazu ist die Garnierung trotz prächtiger Aufmachung zu dünn. Darum wird später die Holzrampe zurückgeklappt, und der Zuschauer blickt wieder von Angesicht zu Angesicht ins spielerische Alles oder Nichts: „Nebbich“ eben.

Carl Sternheim, der Autor des 1924 entstandenen kleinen Stücks mit dem berlinernden Titel, hat eine lange Geschichte mit dem Deutschen Theater, wo Niels-Peter Rudolph als Gastregisseur dieses selten gespielte Lustspiel jetzt in Szene gesetzt hat. Sternheim war mit Max Reinhardt befreundet, der das Haus in den zehner und zwanziger Jahren leitete und verschiedene seiner „Komödien aus einem bürgerlichen Heldenleben“, darunter das skandalträchtige Stück „Die Hose“ zur Uraufführung brachte. Während des ersten Weltkriegs kühlte das Verhältnis zwischen dem Theater und dem Schriftsteller und Kriegsgegner aufgrund anhaltender Zensurschwierigkeiten ab, Sternheim selbst inszenierte dann dort 1924 „Der Nebbich“.

Wer oder was ist ein Nebbich? Ein Nichts, ein wachsweiches und formbares Wesen wie Fritz Tritz (Axel Wandtke), der eigentlich gerne Oberpostbeamter im Bayrischen wäre, wie er seinen Kameraden beim Picknick am Elbufer gesteht.

Aber da kommt eine, die was aus ihm macht. Eine aus der Stadt, eine Sängerin, schön, exaltiert und von Dagmar Manzel fast mit einem transvestitischen Hauch ins Satanische versehen. „Kuß, Kuß“ gurrt und giert sie mit dunkler Stimme, ein „gib mir bitte“ kommt ihr nicht über die dunkelroten Lippen. Sie verlangt ihrem in die Stadt und ins halbkunstseidene Milieu verpflanzten jungen Liebhaber eine Höchstleistung nach der anderen ab - physisch wie geistiger Art -, bis daß der smarte junge Mann aussieht wie ein Gespenst mit bleicher schwitzender Haut. Axel Wandtke schwankt wie ein Stengel im Wind, er zieht das Rückrat hoch, damit er nicht in sich zusammensinkt, und schlägt einmal der Länge nach hin, fällt ganz unmännlich in Ohnmacht.

Die Menschen in der Umgebung der Diva lauern natürlich auf seinen Zusammenbruch, allen voran ihr ältlicher Verehrer und liebender Freund Von Schmettow (Dieter Mann), der sich, zum Kuß aufgefordert, über ihren Nacken beugt und sich nachher artig bedankt.

Dieter Mann ist es auch, der mit seinen knochentrockenen Kommentaren dem Lustspiel etwas mehr Biß verleiht; wie ein Kommissar versieht er seine Aufgabe des aufopferungsvollen Freundes, der dann schließlich triumphierend der Sängerin ein Foto unter die Nase hält, auf dem Fritz Tritz so aussieht, wie er immer ausgesehen hat: ein Nebbich, bei näherem Hinsehen schäbbich.

Und so verabschiedet sich die Diva bald von ihrem Freund oder vielmehr von ihrer Idee von ihm. Einen Schwächling kann sie für ihre Zwecke nicht brauchen, und ein bißchen Leiden hilft ihr zur Vorbereitung der nächsten Rolle. Fritz Tritz aber kehrt beglückt ins Kleinbürgermilieu zurück, wo es gestattet ist, rohe Zwiebeln auf Brot zu essen.

Dagmar Manzel gestaltet ihre Rolle der männerverschlingenden Diva nicht nur mit parodistischer Finesse, sondern mit Gefühl. Sie liebt ihn, weil er so schön, anpassungsfähig und lernbereit ist; aber sie hat auch Angst vor seiner Perfektion. Er dagegen tut einem nur leid. Sternheims Gegenüberstellung, hier die heuchlerische Welt der Großbürger und dort die gefühlsechte der Kleinbürger, worauf die Komödie eigentlich baut, haut darum gleichzeitig wieder nicht hin. Hier täuscht jeder sich selbst und erst dann den anderen. Wo sie fühlt, leidet er; aber wo sie leidet, fühlt er - nichts. Ein Nebbich eben.

Die Auflösung geschieht kurz und schmerzlos. Man geht auseinander, reicht sich noch eben die Hand. So versöhnlich dieses Ende, so versöhnlich auch der Ton der Inszenierung, den Niels-Peter Rudolph anschlägt. Kein Klassenkampf, der tobt (auch wenn der Revoluzzer reden darf), keine zwei Welten, die sich unversöhnlich gegenüberstehen (es trennt sie nur der Zwiebelduft), keine Spitzel im Gewand des Normalbürgers, keine abgründigen Bösartigkeiten, sondern lauter böse Abgründe, die man umschiffen kann, alles bloß harmlose Egomanen, die aus einer anderen Zeit zu sein scheinen. Die Zuschauer sitzen wieder im Elbstromtal, in der Versenkung. Sabine Seifert