■ Aus Anlaß der antirassistischen Demonstrationen:
: Das Feuer und die Masse

Aus einer bestimmten Perspektive betrachtet waren die 70er Jahre, die bis in die chronologischen 80er hineinreichten, ein Jahrzehnt der „Masse“, genauer der politischen Massendemonstrationen mit Hundertausenden Teilnehmern, in Brokdorf, in Gorleben, in Bonn und anderswo. Der massenhafte öffentliche Einsatz der Körper an umstrittenen Orten der Republik einschließlich ihres Zentrums war ein zivilisierter Akt politischer Artikulation. Es spielt keine Rolle, daß unmittelbar nicht viel erreicht wurde. Wichtig ist, daß es sie gegeben hat: die politisch motivierte, freiwillige und massenhafte Demonstration, die bald über jede Denunzierbarkeit hinaus war. Denn denunziert worden ist die Masse stets – als gewalttätig, gedankenlos, jederzeit manipulierbar, regressiv. Ein Paria der politischen Terminologie und des öffentlichen Lebens. Die politische Masse kann aber, soweit sie Bewußtsein und nicht das Unbewußte verkörpert, ein wesentlicher Teil dieses öffentlichen Lebens sein. Grund genug, sie zu rehabilitieren.

Die siebziger Jahren scheinen uns sehr fern. Die politische Masse ist verschwunden, zerstreut, privatisiert. Wo liegen die möglichen Gründe für ihr Verschwinden? Wir haben ein Jahrzehnt hinter uns, das oberflächlich betrachtet ein Jahrzehnt des livestyle und des design war, in dem in Wahrheit aber eine schleichende Aushöhlung des öffentlichen politischen und historischen Bewußtseins stattgefunden hat. Es war ein Jahrzehnt der Resignation, ein Jahrzehnt zudem, das ohne nennenswerten Widerstand die Zweidrittelgesellschaft als Normalfall akzeptabel machte. Die Individuen, denen man beigebracht hat, die sozialen und politischen Mißstände, allen voran die Arbeitslosigkeit, als ihr ganz privates Versagen zu verstehen, äußern sich nicht mehr. Die politische Masse ist ersetzt worden von einer unsichtbaren, ebenfalls schweigenden, nur noch potentiellen Masse, die keine Form mehr besitzt und auch keine mehr sucht. Sie schaut zu, sie schaut weg, aber sie tritt selbst nicht mehr in Erscheinung.

Und auf dieser für eine Demokratie eigentlich gespenstischen Szene flackern nun plötzlich die Feuer aus den Flüchtlingsheimen im ganzen Land. Es brennen nicht Autoreifen oder Barrikaden aus Sperrmüll. Die Feuer sind kein Zeichen für einen begrenzten Konflikt mit dem Politischen. Es brennen Häuser und Menschen, denen sie im Wortsinn Asyl (Zufluchtsstätten) sein sollten, und die Feuer sind ein Zeichen für einen Konflikt mit dem Politischen, für eine Krise des Politischen selbst. Sie sind Resultat und Ausdruck nicht einer Politisierung, sondern einer Entpolitisierung. Brennende Menschen sind das definitive Ende der politischen Artikulation und des Politischen überhaupt.

Auch buchstäblich kann man das Verschwinden der Artikulation beobachten. Die Körper in den Haufen von heute transportieren – im Gegensatz zu denen der Demonstranten von früher – keine Sprache mehr. Die Sprachlosigkeit und das Feuer gehören zusammen in die Phänomenologie der antipolitischen Meuten, die nachts durch unsere Städte ziehen. Schon einmal hat in Deutschland das Feuer das Ende des Politischen eingeleitet, als der Reichstag brannte. Schon einmal, als dann fünf Jahre später die Synagogen brannten, hat es den Übergang zur Vernichtung eingeleitet. In der Logik des Feuers, auf die alles ankommt, liegt immer die totale Vernichtung, liegt immer die Asche. Wir haben es nicht mehr mit Massen zu tun, sondern mit Meuten. In Canettis Klassifikation müßte man von „Hetzmeuten“ sprechen. Nur durch Zufall haben bislang nicht mit einem Mal 100 oder 200 ihrer Opfer gebrannt. Vielleicht muß es erst soweit kommen, ehe dem Spuk ein Ende gesetzt wird.

Diese Rückkehr des Feuers – im europäischen Fremdenhaß ein deutsches Spezifikum – das nicht nur die Flüchtlinge und ihre Häuser, sondern das Politische selbst in Brand setzt, ist weit erschreckender als der Ausbruch von Dummheit und Haß, die es nicht nur hier und nicht erst seit kurzem gibt. Ganz folgerichtig griffen die Flammen von den Asylen auf die Gedächtnisstätten des Holocaust über. Sie gelten dem Fremden und einem Gedächtnis, das in uns etwas inkorporiert hat, was sich immer der Aneignung und Aufhebung entziehen wird und was uns immer daran hindern wird, mit uns selbst ganz eins zu werden. Inkorporiert ist die Asche, die Spur des verbrannten Fremden, und die Asche läßt sich nicht mehr verbrennen. An ihrer Stelle brennen die Flüchtlinge, und wenn sie verbrannt sind, wird auch ihre Asche unbrennbar sein. Wenn das Gedächtnis und das Fremde verbrannt ist, bleibt kein politisches Subjekt mehr übrig, sondern ein riesiges privates. Ein privatisiertes, also dem Wortsinn nach ein beschränktes, beraubtes Subjekt. Ein Volk, eine „Familie“ – der direkte Gegensatz zum Politischen. Denn zum Politischen gehört unlösbar nicht nur die öffentliche, divergierende Artikulation, sondern auch der Bezug zum Fremden, zum Anderen. Zum „inneren“ Anderen, der in unserem Gedächtnis inkorporiert ist, und zum „äußeren“ Anderen, der uns Menschlichkeit und Zivilisiertheit abverlangt, ja viel mehr: der uns die Chance gibt, Menschlichkeit und Zivilisiertheit zu beweisen.

DIe Tradition des Feuers in Deutschland wird jetzt implizit anerkannt durch den Termin der geplanten Großdemonstration – von Masse spricht man weiterhin nicht – in Berlin, den 8. November. 1938 – 1992. Man kann diese „Allparteiendemonstration“ nicht ohne weiteres begrüßen. Schon deshalb nicht, weil eben die politischen Funktionäre, die noch in der Nacht von Rostock „Verständnis“ für die „Bürger“ äußerten, damit aber für das Feuer, in dem diese „Bürger“ die Fremden verbrennen wollten, sich mit an die Spitze der Kundgebung setzen werden. Dieselben Politiker, die kaum ein Wort für die Menschenwürde der Fremden hatten, sich dafür aber wortreich um das „Ansehen Deutschlands in der Welt“ sorgten, nachdem die Wirtschaftsverbände Alarm geschlagen hatten. Ihren Begriff von Menschenwürde haben sie jüngst in Plänen verdeutlicht, die Unterstützung für die Flüchtlinge unter das vom Sozialhilfesatz definierte Minimum zu drücken, das gerade noch die Wahrung der Würde erlauben soll. Was verstehen diese Leute unter der Würde des Menschen? Diese Politiker – nicht alle, die teilnehmen werden, aber die meisten – müßten eigentlich gegen sich selber demonstrieren. Weil sie das nicht tun können, muß die Masse, die für den 8. November einberufen ist, auch gegen sie demonstrieren, indem sie zumindest all die brandstiftenden Äußerungen der letzten Monate in großer Schrift und mit den zugehörigen Namen für alle Welt lesbar zitiert. Nur wenn die verordnete Allparteiendemonstration umfunktioniert wird in eine Massenkundgebung, die historisches Bewußtsein und politischen Protest zum Ausdruck bringt, läßt sich verhindern, daß diese Demonstration die unterschwellige Logik und die offene Tradition des Feuers in Deutschland, gegen die sie sich richten muß, mit einem bloßen verbalen, scheinheiligen Bekenntnis zur Würde des Menschen verschleiert. Reiner Ansén

Der Autor ist Philosoph und lebt in Berlin