Im Wettlauf zum Asyl-Kompromiß

Heute und morgen berät die Antragskommission über den Leitantrag zum Asylrecht für den bevorstehenden SPD-Sonderparteitag/ Druck von außen und innen wächst  ■ Aus Bonn Tissy Bruns

Nun liegt es bei der Antragskommission, den Stein der Weisen zu finden. Einen Berg von über 500 Anträgen müssen die Kommissionsmitglieder unter Vorsitz von Oskar Lafontaine heute und morgen durcharbeiten, der größte Teil davon zum heiß umstrittenen Thema Asyl. Am letzten Wochenende fand mit den Landesparteitagen in Berlin, Brandenburg und des Saarlands die innerparteiliche Willensbildung ihren vorläufigen Abschluß. Der Streit hätte kaum heftiger sein können, nachdem Parteichef Björn Engholm Ende August sogar die engere Parteiführung überrascht hatte, als er im Petersberger Sofortprogramm auch die Bereitschaft zur Änderung des Artikels 16 signalisierte.

Im Osten sind alle für die Petersberger Wende, im Westen herrscht Aufruhr – das war das Bild in den Wochen nach „Petersberg“. Zwar billigte der Parteivorstand Mitte September mit unerwartet großer Dreiviertelmehrheit den neuen Kurs, aber das Nein des hessischen Landesparteitags läutete eine Serie von Abstimmungsniederlagen für Engholm ein: in Bremen, Baden-Württemberg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Berlin und Bayern. Die Abstimmung im Bezirk Mittelrhein zeigte an, daß das sicher geglaubte Nordrhein-Westfalen keineswegs der Meinung des Parteivorsitzenden folgen wollte. Präsidiumsmitglied Gerhard Schröder, Ministerpräsident in Niedersachsen, zog ebensowenig mit wie Hans-Jochen Vogel. Der ehemalige Parteivorsitzende opponierte öffentlich gegen seinen Nachfolger.

Mitte Oktober sah es ganz danach aus, daß der Parteichef keine Mehrheit haben würde – die Suche nach Kompromissen und Annäherungen begann. Die Furcht vor einer innerparteilichen Kontroverse, die den Kanzlerkandidaten und Parteivorsitzenden kosten könnte, grassierte. Der Druck von außen stieg unaufhörlich: nach dem Parteitag der FDP einigte sich die Regierungskoalition auf eine Position zur Verfassungsänderung. Die SPD-Fraktion konnte sich bei der entsprechenden Bundestagsdebatte mit Mühe gerade noch auf Nichtverhalten einigen.

Hans-Jochen Vogel verstummte in der Öffentlichkeit und arbeitete am Positionspapier des Parteirats. Gerhard Schröder versuchte nun seine „95prozentige Übereinstimmung“ mit Petersberg in mehrheitsfähige Formulierungen umzusetzen und warb bei der Parteilinken erfolgreich um Zustimmung. Parteichef Engholm hielt sich aus den Schlachten der Parteitage heraus. Der Streit um sozialdemokratische Grundbestände, um „die Seele“, mutierte fast zu einem Wettlauf um die Frage, wer den Kompromiß nun findet – geschafft hat es bisher keiner der Kombattanten.

Mit den Beschlüssen aus Hannover (Schröder-Kompromiß), Hamburg und westliches Westfalen (beides Versuche, die Parteivorstandslinie mehrheitsverträglich zu variieren) liegen drei Positionen vor, die die Antragskommission besonders genau abklopfen wird. Sachlich kristallisiert sich als gemeinsamer Bestand heraus: die SPD will das einklagbare Individualrecht erhalten, einen eigenen Rechtsstatus für Kriegsflüchtlinge schaffen, ein Einwanderungsgesetz soll her. Auch bei der strittigen Frage möglicher Verfassungsänderungen würden sich Mehrheiten finden: der Hannoveraner Antrag ergänzt den berühmten Satz „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ um einen Verweis auf die Genfer Flüchtlingskonvention. Er schränkt das Asylrecht ein für Bürgerkriegsflüchtlinge und Flüchtlinge, denen in einem europäischen Vertragsstaat der Genfer Konvention Asyl gewährt oder nach Überprüfung durch eine Instanz verweigert wurde. So weit würden viele Delegierte folgen. Als kritischer Punkt bleibt: was geschieht mit den Flüchtlingen, die im Sprachgebrauch der Union das Asylrecht „mißbrauchen“, den „offensichtlich unbegründeten“ Fällen? Petersberg wollte „Länderlisten“, also den Ausschluß von ganzen Flüchtlingsgruppen aus dem Asylverfahren nach Herkunftsland. Mittlerweile schwenken Björn Engholn und Fraktionschef Klose in diesem Punkt Kompromißfahnen, ebenso der Hamburger und Westfalen-Antrag: auch für solche Bewerber muß der individuelle Einspruch vor einer unabhängigen Instanz gesichert sein. Das ist übrigens der Standard der Genfer Konvention. Gerhard Schröder baut auf die „Länderliste im Kopf des Entscheiders“. Im Hamburger Antrag können „Listen sicherer Herkunftsländer Anhaltspunkt für ein beschleunigtes Verwaltungsverfahren“ sein. Das westliche Westfalen will „prüfen“, ob ein Vorverfahren die Aufnahme ins Asylverfahren klären kann oder nicht.

Zudem hat der Parteitag nicht nur über Sachfragen zu entscheiden. Jeder weiß, daß die SPD in Verhandlungen gehen wird. Der Verdacht lautet, daß der Artikel 16 nur allzu bereitwillig zur Disposition gestellt wird, weil der Druck zu stark ist und die Parteioberen womöglich gar in Richtung große Koalition wollen. Während die einen ein möglichst offenes Mandat für die Verhandlungen der Fraktion haben wollen, trachten die anderen danach, den Beschluß möglichst genau zu fassen. Einigermaßen fest steht: Es wird knapp, und egal, welche Formel die SPD findet, Stoff für Streit und Interpretationen wird es vermutlich auch nach dem 17. November geben.