: Die Novemberrevolution in Berlin
■ Am 9. November 1918 wurden zwei Republiken ausgerufen: Philipp Scheidemann proklamierte vom Balkon des Reichstags, Karl Liebknecht vom Balkon des Schlosses
Was war das für ein Tag, dieser Samstag, der 9. November 1918? Die Münchener hatten es jedenfalls den Berlinern schon vorgemacht. Am 8. November wurde die Republik ausgerufen. Der Arbeiter- und Soldatenrat unter dem Sozialdemokraten Kurt Eisner übernahm die Regierung. In Braunschweig dankte der Herzog ab. Vorausgegangen war am 4. November die Matrosenrevolte in Kiel. Die offene Meuterei der Soldaten, die nicht mehr gewillt waren, am Ende des verlorenen Krieges noch verheizt zu werden, war von den kaiserlichen Offizieren nicht mehr zu stoppen. Folge des Aufruhrs: überall in Deutschland bildeten sich Arbeiter- und Soldatenräte: Hamburg, Bremen, Rostock, Hannover, Köln, Düsseldorf, Bielefeld, Duisburg, Magdeburg, Halle, Frankfurt.
Am 7. November hatte der militärische Oberbefehlshaber von Berlin, Generaloberst von Linsingen, noch versucht, die Revolution durch folgende Bekanntmachung zu verbieten:
„In gewissen Kreisen besteht die Absicht, unter Mißachtung gesetzlicher Bestimmungen Arbeiter- und Soldatenräte nach russischem Muster zu bilden. Derartige Einrichtungen stehen mit der bestehenden Staatsordnung in Widerspruch und gefährden die öffentliche Sicherheit. Ich verbiete auf Grund des §9b des Gesetzes über den Belagerungszustand jede Bildung solcher Vereinigungen und die Teilnahme daran.“
Genutzt hat das gar nichts. Die Verhaftung mehrerer Arbeiterführer, das Verbot von Versammlungen und das Zusammenziehen von Militär in der Reichshauptstadt haben dann wohl eher das Gegenteil des Gewollten bewirkt. Die allgemeine Meinung in der Stadt war: Jetzt ist die Zeit gekommen – der letzte Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Pläne für einen Generalstreik am 11.11. zum Sturz der Monarchie waren plötzlich überholt.
Demonstrationszüge
Nachdem der trübe Novembertag ohne Anzeichen einer Unruhe begonnen hatte, die Verkehrsmittel funktionierten, war am frühen Morgen in den großen Fabriken die Hölle los. Es formierten sich große Demonstrationszüge an der Peripherie der Stadt. Allein aus Henningsdorf zogen 10.000 Leute nach Tegel, um sich dort mit den Borsig-Arbeitern zu vereinen und dann nach Berlin zu laufen. Die Parolen: Nieder mit dem Krieg! Wir wollen Brot und Frieden! Nieder mit der Monarchie! An den Kasernen wurden die Soldaten aufgefordert, sich der Revolution anzuschließen.
Gegen 12 Uhr erreichte einer der Demonstrationszüge die sogenannte „Maikäferkaserne“ des Garde-Füselier-Regiments in der Chausseestraße in Berlin-Mitte (später dort das Walter-Ulbricht- Stadion/Stadion der Weltjugend). Der Zug wurde von den Soldaten mit Jubel begrüßt. Die Soldaten waren aber von einer Wachmannschaft aus Weißensee eingesperrt. Soldaten aus dem Demonstrationszug brachen die Türen auf. Die Bewacher leisteten Widerstand, drei der Befreier wurden erschossen. Einer davon war der Jungsozialist Erich Habersath. Ein Teil der „Maikäfer“ schloß sich den Demonstranten an, ein anderer – größtenteils Verwundete – blieb in der Kaserne, der Rest machte sich „auf Urlaub“ nach Hause auf. Die Straße neben der damaligen Kaserne trägt seit 1951 zur Erinnerung an die Erschossenen den Namen Habersathstraße.
Gefangenenbefreiung
Währenddessen rückte aus Moabit ein anderer Demonstrationszug in Richtung Innenstadt vor. Gegen 13 Uhr erreichte er das Zellengefängnis Moabit an der Invalidenstraße nahe dem Lehrter Bahnhof. Die Arbeiter und Soldaten stürmten das Gefängnis kurzerhand und befreiten die dort einsitzenden politischen Gefangenen, unter ihnen Leo Jogiches, einen Organisator der Spartakusgruppe. Auch das Strafgefängnis Tegel wurde gestürmt. 200 Militärgefangene kamen in Freiheit.
Zeitgleich wurde das Polizeipräsidium am Alexanderplatz angegriffen. Einige tausend Leute zogen gegen 13 Uhr zum Präsidium und bildeten einen Ring um das mit Maschinengewehren abgesicherte Gebäude. Emil Eichhorn, USPD-Mitglied, führte die Verhandlungen zur Übergabe des Gebäudes. Während die Verhandlungen mit den Offizieren andauerten, machten sich die Schutzleute durch die Hintereingänge aus dem Staub. Ein Berg von weggeworfenen Säbeln und Revolvern blieb zurück. Nach anderthalb Stunden unterschrieb Polizeipräsident Oppen preußisch korrekt das Übergabeprotokoll. 650 Gefangene wurden befreit, das Gebäude von den Volksmassen gestürmt. Die Polizeiwaffen verschwanden bis zum letzten Gurt und zur letzten Revolvertasche. Eichhorn wurde erster nachrevolutionärer Polizeipräsident, seine Absetzung am 4. Januar 1919 löste den sogenannten Januar-Aufstand aus, in dessen Verlauf Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet wurden.
Zwei Republiken
Am 8. November war noch Monarchie. Am nächsten Tag gab es gleich zwei Republiken in der Stadt. Als im Laufe des Vormittags klar wurde, daß die Monarchie, egal ob der Kaiser abdankte oder nicht, den Tag nicht mehr überleben würde, trat praktisch ein Wettlauf um die Ausrufung der Republik ein. Schon gegen 13 Uhr kursierten Flugblätter eines „Arbeiter- und Soldatenrates“, der die „soziale Republik“ leben ließ. Herausgeber waren einige im Vorwärts-Gebäude in der Kreuzberger Lindenstraße versammelte Führer der Sozialdemokratie, die allerdings auf eigene Faust agierten, denn genau zu dieser Zeit verhandelte nach der Meldung über den Rücktritt des Kaisers gerade die Parteispitze unter Ebert, Scheidemann und Braun im Reichskanzlerpalais über die Ernennung von Friedrich Ebert zum Reichskanzler. Das Gespräch endete schließlich damit, daß ein Flugblatt herauskam, in dem es hieß, „... der bisherige Reichskanzler Max Prinz von Baden hat mir unter Zustimmung sämtlicher Staatssekretäre die Wahrnehmung der Geschäfte des Reichskanzlers übertragen“. Danach konnte durchaus zweifelhaft sein, ob die Machtübernahme durch Revolution oder noch auf der Basis des gerade untergehenden Kaiserreiches vonstatten ging. Während anschließend die Fraktionen von SPD und USPD im Reichstagsgebäude über die Regierungsbildung diskutierten, war die Menschenmenge vor dem Haus so stark angewachsen und unruhig geworden, daß sich gegen 14 Uhr Philipp Scheidemann zu einer improvisierten Rede hinreißen ließ, in der er schließlich „die deutsche Republik“ ausrief.
Damit war er Karl Liebknecht zuvorgekommen. Dieser traf gegen 16 Uhr mit einem kleinen Kraftwagen am Schloß ein und hielt vom Balkon des Schlosses zwei Ansprachen. Schließlich proklamierte er die „freie sozialistische Republik Deutschland, die alle Stämme umfassen soll, in der es keine Knechte mehr geben wird, in der jeder ehrliche Arbeiter den ehrlichen Lohn seiner Arbeit finden wird“. Damit gab es nach der einen Monarchie jetzt zwei Republiken in der Stadt. Der Ort des Geschehens ist heute zum Teil noch zu besichtigen. Mehr oder weniger als einziger Teil des 1950 abgerissenen Stadtschlosses hat der Balkon des Portals IV überlebt. Die DDR hat den Balkon in die Fassade des Staatsratsgebäudes am Marx-Engels-Platz integriert.
Die Kämpfe um die Universität und die Bibliothek in der Straße Unter den Linden, die Besetzung der großen Zeitungsbetriebe, des Wolffschen Telegrafenbüros, des Telegrafenamtes und des Reichstagsgebäudes kosteten keine Menschenleben auf seiten der Aufständischen, wie der Aufstand insgesamt nur wenige Opfer forderte. Die siegreichen Revolutionäre zählten 15 Tote. Die Zahl der Toten auf der Gegenseite wurde sogar noch geringer geschätzt. Acht der Revolutionäre wurden am 20. November 1918 auf dem Friedhof der Märzgefallenen im Friedrichshain, Landsberger Straße, beerdigt. Die Stadtverwaltung hatte die Organisation übernommen. Einige tausend Menschen nahmen am Trauerzug vom Tempelhofer Feld durch die Innenstadt bis zum Friedhof teil.
Die Bronzefigur eines Roten Matrosen des Bildhauers Hans Kies, die die Toten bewacht, wurde 1960 aufgestellt. Die DDR hat den Ort zuletzt nicht mehr besonders gemocht. Sie hatte Anfang der fünfziger Jahre einen Gedenkstein für die 1848-Revolutionäre aufstellen lassen, der zu eindeutige Erklärungen enthielt, daß die Berliner Barrikadenkämpfer 1848 auch für die Schaffung eines einheitlichen Deutschlands gefallen waren. Jürgen Karwelat
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen