Schlußverkauf in 61

Schick wird es und teuer. Die Trinker und Träumer am Kreuzberg rücken zusammen.  ■ Von Olga O'Groschen

Ein rätselhafter Zauber liegt über der Gegend am Kreuzberg. In großen Bussen schaukeln die Touristen durch die Bergmannstraße, über den Chamissoplatz, die Zossener Straße herunter. Hinter den Glasscheiben sitzen sie und drücken auf ihre Kameras. Andere kommen zu Fuß, bevölkern die Kneipen und Cafés und staunen mit großen Augen.

Längst ist die Schickeria lecker geworden auf diese Gegend. Sie kreuzt gleich mit Möbelwagen auf, sitzt dann in ihrer Dachwohnung und weiß nicht mehr, was sie hier soll. Gegenüber im dritten Stock wird ein Joint herumgereicht, die Leute hocken in ihrer Küche zuhauf und kichern. Ein stiller Mond lebt unter dem Kreuzberger Himmel. Zuweilen vermeint man in diesen Straßen ein heimliches Herz pochen zu hören. Nicht oft. Und immer seltener. Aber es pocht und pocht, daran ist nicht zu tippen.

Wer hier ankommt, nehme zunächst ein Frühstück im „Bier-Expreß“ am Mehringdamm. Eine alte Berliner Bierschwemme, in der frühmorgens schon der Rauch in Schwaden hängt. Auch Rentner Marotzke sitzt für gewöhnlich hier, studiert die aktuelle BZ, läßt hin und wieder ein neues Bier auffahren. Draußen laufen sich die Kreuzberger warm. Über Mehringdamm und Yorckstraße jachten die Automobile. An den Würstchenbuden stehen die Leute, zur U-Bahn klettern sie herunter, die Arbeitstasche unterm Arm. Zeitugsverkäufer rufen aus, Schnorrer bitten um eine Gabe, Kinderwagen schieben durch, die letzten Nachtschwämer schlurfen heimwärts. Marotzke kennt das, kippt einen Klaren, ordert noch ein Bier und liest weiter.

Über der Apotheke an der Ecke wohnte vorzeiten ein Doktor Gottfried Benn. In seinen dunklen Zimmern empfing er die Patienten, hörte die Musik aus den benachbarten Cafés und füllte seine Notizbücher beharrlich mit unleserlichen Versen. An eigentümlichen Existenzen herrschte hier nie Mangel. Von den Yorckbrücken her schlurft Herr Stoert in seinen Westernstiefeln an, das Haar geschoren, die Augen verschattet.

Still und vergnügt sitzen sie alle auf der Schattenseite des Kreuzbergs, die Spinner und Schwärmer, die Trinker und Träumer, die Kokser und Kiffer. Auch für sie bricht im umgestalteten Berlin eine neue Zeit an. Was sich schon daran zeigt, daß Benno seine Kiff-Kunden jetzt mit einer Digitalwaage überrascht. Bis auf das hundertstel Gramm genau wird der schwarze Afghane nun vertickt. Doch wenn die Pfeife glutrot aufblubbert, wird manchem klar, daß andere Veränderungen in diesen Tagen viel schwerwiegender sind.

Wunderlich geht es auf der Bergmannstraße zu, dem kleinen und großartigen Boulevard dieses Viertels. Zwischen dem Mehringdamm und der Marheineke- Markthalle zieht sich die Meile der Trödler und Händler hin, die vor wenigen Jahren noch als Geheimtip gehandelt wurde. Günstige Gelegenheiten aus Privatbesitz, gesichtete und sortierte Nachlässe, Funde aus Entrümpelungen wurden hier unter das Volk gebracht. Soweit das Volk seine Kleinodien nicht schon am Leihhaus Ecke Kreuzbergstraße versetzt hatte. Möbel und Bücher, Kleidung und Küchengerät, Spielzeug und Schmuck, alles wurde zu wohlfeilen Preisen verkloppt und verhökert. Eine Trödlerin neben dem Waschcenter hatte sich auf alte Teddybären geworfen, die noch alle Anzeichen kindlicher Zuneigung trugen. Onkel Aboudabou bietet heute noch alles erdenkliche Gelumpe feil, das bei Sterbefällen übrigbleibt. Ein Laden nennt sich schlicht und passend „Wohnungsauflösungen“ und platzt selbst aus allen Nähten.

In einer Kellerbehausung sitzt breitbeinig Petroschka zwischen ausgefallenen Pornos und Kinderspielzeug. Er versteht sich in letzter Zeit allerdings eher als Antiquitätenhändler. Das passiert so manchem Händler hier unter dem Druck der Mieten. Mit kühner Hand werden die Preisschildchen umgeschrieben, „echt antik“ darübergesetzt. „Und dann fährt so ein Yuppie vor und klemmt sich den Emaille-Waschtrog, Jugendstil, für dreihundert Eier. Na wissen Se, da bleibt einem doch die Spucke weg!“

Überhaupt vollziehen sich hier große Dinge. An den Baulärm haben sich die Anwohner in den letzten Jahren schon gewöhnt. Keine Fassade, die nicht erneuert würde. Kein Hinterhof, der nicht völlig umgestaltet würde. Statt der gemeinsamen Außenklos nun die individuelle Naßzelle. Kohleöfen gibt's schon längst nicht mehr, überall hat die Zentralheizung gesiegt. Fluchende Baukolonnen und Immobilienhändler mit feiner Witterung belagern die Straße.

Richtig schick wird es hier und richtig teuer. Wie aus dem Ei gepellt blinzeln nun die Häuser, wollen von ihrem düsteren Nachkriegsputz nichts mehr wissen, zeigen artig ihre Jugendstil-Girlanden, die Gründerzeit-Fenstergiebel. Hell und freundlich sind die Fassaden getüncht, die Thermopenfenster geputzt.

Adrett hergerichtet locken die neuen Geschäfte ihre Kundschaft. Juweliere mit goldglänzender Auslage haben sich hier angesiedelt, und Kleiderläden, die sich „City Market“ nennen und Mode für die notorischen Nachzügler anbieten. Für die Kreuzberg-Touristen statten die Läden ihre Schaufenster mit einem schrillen Brikett-Design aus und verkaufen alle erdenklichen Souvenirs knapp über dem Massengeschmack. Kitsch und Tinnef, postmodern gewendet, gesalzen die Preise.

Die zahllosen Spielhallen mit ihrem ideenreichen Ambiente tragen ebenfalls ungemein zum Erholungswert der Bergmannstraße bei. Ertragreicher noch sind die neuen Kneipen und Restaurants, die sich auf die ortsfremden Kunden spezialisiert haben. Im „Milagro“ kann man sich über dem Milchkaffee hip fühlen, der Charme einer Bahnhofshalle empfängt einen im „Atlantic“. Das „Turandot“, das besser „Saufaus“ heißen sollte, bietet eine Zuflucht für östliche Nostalgie-Punks. Manch Kreuzberger kratzt sich besorgt den Kopf, wenn er bedenkt, wohin das alles führen wird. Aber dann schiebt er rüber zu „Ambrosius“, eine der garantiert touristenfreien Zonen, bestellt sich Eisbein mit Sauerkraut, Bier dazu, um sich an Leib und Seele zu kräftigen. Denn noch, so hören wir ihn singen und frohlocken, noch ist Kreuzberg nicht verloren.

Gemäßigt in ihrem Lebenswandel, in sich gekehrt, ein wenig unscheinbar, so halten sich die Leute vom Kreuzberg seit Jahren zäh über Wasser. Abenteuerlich sind ihre Geldbeschaffungsmaßnahmen, versiert ihre Lebensbegründungen. Hier die autonome Sozialhilfeempfängerin, die irgendwie ihr Ding durchziehen will. Dort der frisch zugewanderte Punk, der auf einem Pillen-Trip nach Berlin segelte und sich seither fragt, ob dies alles wirklich wirklich ist. Ein Polizeiwachtmeister unternahm kürzlich einen Selbstmordversuch mit Baldrian. Gestand jedenfalls seine Bekannte nach dem siebten Wodka.

Überhaupt werden die Kreuzberger bei überhöhter Alkoholzufuhr oft ein wenig ulkig. Geläufig ist wohl allen hiesigen Anwohnern ein nächtliches Gespräch wie dieses in der Solmsstraße: „Wenn wir an die Regierung wären, verstehste, paß uff!“ So der eine, im Rinnstein sitzend. Sein Kumpel, am Laternenpfahl sinnierend, rafft sich plötzlich mannhaft auf: „Ick brauch 'ne Waffe, jetz sofort, 'ne Waffe!“ Und abziehen beide, das Deutschlandlied aus rauher Kehle schmetternd. Und dann war da noch der Mann im „Golgatha“. Von der Terrasse aus schlug er sein Wasser ab auf die unteren Ränge. Königlich sein Amüsement, als sich die Leute unten über den plötzlichen Regen wunderten. Einer kam hoch, „Du hast meiner Freundin in den Wein gepinkelt“, und gab gezielte Kopfnüsse. Der fröhliche Pisser hielt stille und murmelte schließlich in schöner pazifistischer Manier: „Stopp ey, stopp, es fließt schon Blut.“

Ja, wunderlich geht es hier zuweilen zu. Man studiere die eingeborenen Säufer in der Marheineke-Markthalle, wie sie kurz vor sechs den Kreuzberger Ausfallschritt üben, um noch auf den Beinen zu bleiben. Später ziehen sie alle die Zossener Straße runter ins „Schmale Handtuch“, um den Abend zu begießen. Ruhig sitzt der Kreuzberg in dieser seltsamen Gegend, und darüber schwankt der stille Mond.