„Bild“ braucht den Aufmacher

Mit dem Enthüllungsautor Wallraff möchte nicht nur das Springer-Blatt abrechnen/ Wie die Bundesanwaltschaft eine „Super“-Ente zu neuem Leben erweckte/„Aktion Walküre nicht personengebunden“  ■ Von Walter Jakobs

In der Küche sieht es aus wie immer. Berge von Zeitungen, Post und Bücher bedecken den Tisch. Kaffee, Körner und Nüsse, das vertraute, zum Platznehmen einladende Chaos. Nur die Ruhe irritiert. Kein Gewusel von Kindern, Freunden und Journalisten, keine vor der Haustür lauernden Kamerateams. Selbst das Telefon, das gewöhnlich niemals Ruhe gab, wenn Günter Wallraf wieder einmal als Angreifer oder Angegriffener für Schlagzeilen sorgte, gönnt sich an diesem Mittwoch längere Pausen.

Der Wirbel um die Stasi-Verleumdung durch die Bild-Zeitung hielt nicht lange vor. „Zuerst herrschte Hysterie, aber das war nach ein paar Stunden vorbei“, erinnert sich Wallraff. Schon in der Nacht zum vergangenen Freitag, kurz nach Andruck des Springer- Blattes, kam der erste anonyme Anruf: „Jetzt killen wir dich, du Stasi-Schwein.“ Dann „spielte das Telefon wieder einmal verrückt“. Mindestens ein dutzendmal kam aus dem Telefonhörer „ein Krachen, Rauschen und Zischen und die Leitung war bis zu einer Stunde blockiert“.

Diesmal hat der Enthüllungsautor die Post erst gar nicht informiert, denn deren frühere Überprüfungen verliefen sich regelmäßig im Gestrüpp der Kabelschächte. Selbst die Abhöraktion der Bild-Zeitung, die kurz nach der Biermann-Ausbürgerung im November 1976 zwei Tage lang in ihrer Kölner Redaktion einen direkten Zugriff auf die Telefonleitung des Autors hatte, blieb unaufgekärt. Die beiden Bild-Redakteure Horrmann und Distel, die, so die Anklageschrift der Kölner Staatsanwaltschaft „beschlossen“, die Telefongespräche „abzuhören und auf Tonbänder aufzunehmen“, kamen im Juni 1981 vor einem Kölner Schöffengericht mit Geldbußen von 9.000 und 7.000 Mark davon. Wer die Abhörleitung seinerzeit installierte, wurde nie ermittelt.

Manipulationen an seiner Telefonleitung sind Wallraff immer wieder aufgefallen — zuletzt nach der Super-Denunziation im Februar dieses Jahres. Als er einmal den Hörer nach Beendigung eines Telefonates nicht sofort auflegte, drangen plötzlich die letzten Sätze des soeben geführten Gespräches aus der Muschel...

Um dem erneuten Psychoterror zu entgehen, hat seine Frau Barbara diesmal mit der sieben Monate alten Tochter Elena die Kölner Wohnung verlassen und Zuflucht an einem sicherem Ort gesucht. Wallraff selbst ist froh, daß er sein neues Projekt, „vieleicht aus einer Ahnung heraus“, in der vergangenen Woche unterbrochen hatte und so in der Lage war, der in Bild erneut „aufgequirlten S u p e r-Kacke“ die Fakten entgegenzusetzen.

Tatsächlich werden in der Bild nur die bekannten Vorwürfe des inzwischen eingegangenen Burda- Schmierblattes Super wiederholt – allerdings jetzt versehen mit den Weihen des obersten Anklägers der Bundesrepublik, Generalbundesanwalt Alexander von Stahl. Der hat die Vörwürfe, die allein auf den Aussagen des ehemaligen Stasi-Mannes Peter Eberlein beruhen, in geradezu unglaublich leichtfertiger Weise ungeprüft in die Anklageschrift gegen den Leiter der Ostberliner „Hauptverwaltung Aufklärung“ (HVA), Markus Wolf, aufgenommen. Laut Wolf- Anklageschrift, im Bild-Artikel wörtlich zitiert, soll Wallraff unter dem Decknamen „Walküre“ geführt worden sein und von 1967 bis 1976 für die Stasi gearbeitet haben. Wegen der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann habe Wallraff 1976, so schreibt von Stahl in der Wolf-Anklage, seine Stasi- Kontakte abgebrochen. Neben der Lieferung von Informationen aus dem Bereich der SPD und der „linken Szene“ habe Wallraff über seine verdeckte Arbeit bei Bild nach Ost-Berlin berichtet: „Eine weitere, zeitweise verfolgte Zielstellung im Vorgang ,Walküre‘ war es, über Hans Günter Wallraff, der sich unter falscher Identität in die Redaktion der ,Bild-Zeitung‘ einschlich, Kenntnisse über Personalstruktur, Einstellungs- und Karrierevoraussetzungen bei der ,Bild- Zeitung‘ sowie etwaige Kontakte dort beschäftigter Journalisten zu westdeutschen Politikern zu erlangen“. Wie von Stahl zu diesen Anschuldigungen kam, läßt sich leicht aufklären.

Ein paar Tage nach der Super- Veröffentlichung vom 12. Februar 1992 wurde Eberlein „in dem Ermittlungsverfahren gegen Markus Wolf“, so heißt es in dem Vernehmungsprotokoll, von Beamten der Bundesanwaltschaft als Zeuge gehört. Dabei wiederholte er die gesamte Super-Story, die er zuvor in einer eidesstattlichen Versicherung niedergelegt hatte. Unter Punkt 6 heißt es dort: „Wallraff gab dem MfS einen ausführlichen Bericht über seinen Einsatz bei BILD...“ Und weiter unter Punkt 7: „Aufgrund der Informationen des Wallraff über BILD wurde durch Ergänzungen von anderen Materialien, die dem MfS über diesen Komplex bereits vorlagen, ein umfangreiches Dossier erarbeitet...“. Am Ende seiner eidesstattlichen Erklärung versichert Eberlein dann: „Mit der Ausbürgerung des Wolf Biermann 1976 gab Wallraff auch seinen Kontakt zum MfS auf.“

Von diesen Behauptungen – und das hätte die Bundesanwaltschaft bei einem Minimum an eigener Recherche durch einen simplen Datenabgleich feststellen können – ist kein Wort wahr. Wolf Biermann wurde am 15. 11. 1976 ausgebürgert und lebte danach monatelang in der Wohnung von Günter Wallraff. Dessen Arbeit als „Hans Esser“ bei Bild begann exakt am 7. 3. 1977. Wie konnte er einen „ausführlichen Bericht über seinen Einsatz bei Bild“ abgeben, wo er doch nach den Ausführungen der Bundesanwaltschaft selbst und des Zeugen Eberlein seinen Kontakt zum MfS 1976 abgebrochen hatte?

Daß dieses Lügengespinst, über das Eberlein in der nächsten Woche beim Berliner Landgericht in dem von Wallraff gegen Super angestrengten Unterlassungsprozeß aussagen muß, ungeprüft in die Wolf-Anklageschrift gelangen konnte, hält nicht nur Wallraff für das „eigentlich Empörende“ an diesem neuesten Verleumdungsstück: „Ich werde als Zeuge eingeführt in einem Verfahren, mit dem ich nichts zu tun habe. Für mich ist das ein perfides Lehrbeispiel dafür, wie Menschen – ohne jemals gehört zu werden – durch die Bundesanwaltschaft in Verruf gebracht werden.“ Auch „wenn es völlig haltlos ist, gerät man sofort unter einen Rechtfertigungsdruck, und es kostet sehr viel Zeit, um die wirklichen Hintergründe plausibel zu machen.“

Tatsächlich hat Wallraff sich in den Jahren 1968 bis 1971 darum bemüht, DDR-Archive über die NS-Zeit nutzen zu können. Zu diesem Zwecke wandte er sich an den damaligen Leiter des Aufbau-Verlages, der einige Wallraff-Texte in der DDR herausgegeben hatte. Vom Verlag wurde ein Kontakt mit einem Vertreter des Pressezentrums beim Ministerrat der DDR hergestellt. Das war Heinz Dornberger, offiziell im Presseamt angestellt, im Hauptberuf aber Hauptmann bei der HVA. „1971 habe ich den Kontakt mit Dornberger, über dessen MfS-Hintergrund ich nichts wußte, abgebrochen. Das war es.“

Den ihn belastenden Peter Eberlein, der in der HVA-AbteilungX, der Fälscherwerkstatt des MfS, mit Dornberger für einige Monate ein Dienstzimmer teilte, hat Wallraff nie zu Gesicht bekommen. Dornberger bearbeitete den Vorgang „Walküre“. Als der die Akte einmal ungeschützt auf seinem Schreibtisch liegen ließ, will Eberlein hineingeschaut und „ersehen“ haben, „daß es sich bei Walküre um Günter Wallraff handelte“. In seiner eidesstattlichen Versicherung schreibt Eberlein, „Wallraff wurde als geworben betrachtet“ und bei „den Ein- und Ausreisen des Wallraff wurde die Variante Schleusung angewendet“. Wallraff habe „ohne Paß – und Gepäckkontrollen“ passieren können. Auch diese Behauptung kann Wallraff leicht widerlegen. Er hat seinen alten Paß aufbewahrt und in dem prangen die Stempel der DDR-Grenzbehörden, Besuch für Besuch...

Während Eberlein in seiner eidesstattlichen Versicherung von Wallraff als geworbenen Agenten schwadroniert, sagte er gegenüber der Bundesanwaltschaft aus, der Kölner Autor sei eine „Abschöpfquelle“ gewesen. „Das bedeutet allerdings nicht, daß er den Beziehungspartner MfS nicht gekannt hätte.“ Gegenüber dem Bundeskriminalamt, hatte Eberlein am 27. 11. 1991 noch das genaue Gegenteil behauptet. Wörtlich heißt es in dem BKA-Protokoll: „Es gibt keine konkreten Anhalte für mich zu der Annahme, daß Wallraff bei diesen Kontakten erkannt hat bzw. hätte erkennen müssen, daß Dornberger dem MfS angehörte“. Vom „Hörensagen“ wisse er, daß Wallraff aus Nazi-Archiven Material erhalten habe. „Auch hierzu ist mir nicht bekannt, ob Wallraff wußte, daß er mit dem MfS in Verbindung stand.“ Wenige Wochen später, als die Super an ihn herantrat, wußte er es dann ganz genau. Der Bundesanwaltschaft waren diese Widersprüche nicht eine einzige Frage wert. Sie übernahm allein die Super-Version.

Dornberger selbst hat bisher – weil gegen ihn selbst ein Ermittlungsverfahren läuft – zu dem Vorgang geschwiegen. Vor dem Berliner Landgericht bestätigte er allerdings, daß der Super-Mitarbeiter Helberg ihn einige Zeit vor der Veröffentlichung angesprochen und ihm 50.000 Mark geboten habe. Vielleicht erklärt dieses Angebot die widersprüchlichen Aussagen des Zeugen Eberlein, dessen Geldgier ihn schon im MfS scheitern ließ. Wegen Unterschlagung von sogenannten Operativgeldern für vermeintlich von ihm geführte Agenten, wurde er zu DDR-Zeiten zu fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt.

Während die Bundesanwaltschaft diesen dubiosen Zeugen gegen Markus Wolf auf Kosten von Wallraff ins Feld führt, werden die entlastenden Aussagen des Oberstleutnant Günter Bohnsack in der Anklage vollkommen unterschlagen.

Inzwischen hat Bohnsack, der als Referatsleiter in der HVA-AbteilungX arbeitete, im Berliner Super-Prozeß ausgesagt, daß ihm der Deckname „Walküre“ bekannt gewesen sei. Bohnsack wörtlich: „Die Aktion ,Walküre‘ war nicht personengebunden und hatte mit Sicherheit nichts mit Wallraff zu tun“.

Wallraff, der nach Angaben des Berliner Schriftstellers Jürgen Fuchs in dessen Stasi-Akten seit Anfang 1975 als eine „operativ interessierende Person“ auftaucht, die „zu bespitzeln und zurückzudrängen ist“, hofft, daß er nach der „perfiden Verleumdung durch die Bundesanwaltschaft“ jetzt auch wirklich als Zeuge im Wolf-Verfahren gehört wird. Den erlittenen Schaden wettmachen könnte ein solch öffentlicher Auftritt aber nicht.

Nach den neuerlichen Anschuldigungen mußte der Autor in der vergangenen Woche wegen erstmals auftretender Herz-Rhythmusstörungen vorübergehend ein Krankenhaus aufsuchen. Jetzt hofft er, daß er bald wieder die Kraft und die Zeit findet, sich auf sein neues Projekt, „das viele in diesem Staat aufscheuchen wird“, konzentrieren zu können.