: Mit Mädchen ist zu rechnen
■ Aber anders: Mädchen analysieren mathematische Probleme, wo Jungens gleich loswuseln
Mit Mädchen ist zu rechnen
Aber anders: Mädchen analysieren mathematische Probleme, wo Jungens gleich loswuseln
„Bevor Mädchen eine Rakete zum Mond zu schicken, sammeln sie erstmal alle verfügbaren Informationen und bauen sie in das Steuerungsprogramm ein. Jungen dagegen starten die Rakete sofort und versuchen unterwegs, den Kurs zu korrigieren.“
Dieses skurril erscheinende Beispiel ist ein Ergebnis von zehn Jahren Forschung der Mathematik-Didaktik. Fazit von Inge Schwank, Mathematikerin am Osnabrücker Forschungsinstitut für Mathematikdidaktik und in der letzten Woche Gast der Uni Bremen: Mädchen denken, zumindest in mathematischer Hinsicht, anders als Jungen. Nicht besser und vor allem nicht schlechter, einfach anders.
Eine typische Situation aus einer beliebigen Informatik-Stunde in der Schule: Die Klasse bekommt eine Aufgabe gestellt. Während die Mädchen grübelnd dasitzen, stürzen sich die Jungs auf die Computer und hacken munter drauf los. Und haben womöglich schneller ein Ergebnis parat. „Mädchen denken mehr in Zusammenhängen: Sie analysieren erstmal das Problem, strukturieren es und bauen sich einen konzeptionellen Rahmen“, erklärt Inge Schwank. „Jungen dagegen beginnen schon mal mit einer ersten Lösung, bevor sie ihre Idee vollständig strukturiert haben. Sie finden ihre Lösung im Dialog mit dem Material, analysieren Teillösungen und verändern sie.“ Diese unterschiedlichen Strategien und Denkstrukturen nennt das Osnabrücker Institut „begrifflich/prädikativ“ und, im Jungensfalle, „sequentiell/funktional“.
Über 200 SchülerInnen hat das Institut für Mathematikdidaktik bisher untersucht — in Deutschland unter anderem im Auftrag des Landkreises Emsland, als „Beitrag zur Förderung von Mädchen im Bereich der neuen Technologien“, aber auch in Indonesien und China. Die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen waren, unabhängig von der Sozialisation, deutlich: Ein Großteil der Mädchen ließ sich in die Kategorie „begrifflich/prädikativ“ einordnen — ging mathematische Probleme also im Gesamtzusammenhang an —, während die meisten Jungen „sequentiell/funktional“ die Probleme lösten — also möglichst schnell einen Lösungsprozeß in Gang setzten und erst im Nachhinein Teillösungen miteinander verketteten.
Die Jungen haben schneller Erfolgserlebnisse, werden dadurch in ihrem Selbstbewußtsein gestärkt. Doch bei jedem neuen Problem fangen sie, losgelöst von Vorhergegangenem, von vorn an zu wuseln. Haben Mädchen aber beim ersten Stolperstein einmal das zugrundeliegende System erkannt — was natürlich länger dauert — stehen sie beim nächsten Mal nicht wieder vor einem neuen Problemberg, sondern benutzen ihre Analyse zur — dann eher schnelleren — Lösung des Teilproblems.
„Es ärgert mich ungeheuer, daß die Eigenschaften der Mädchen immer in eine negative Ecke gestellt werden“, sagt Inge Schwank. „Das Problem, daß die Physik- Leistungskurse fast nur noch von Jungen belegt werden und sich die Mädchen in der Mathematik nicht sehr breit machen, liegt nicht daran, daß sie sowas nicht können.“ Ganz im Gegenteil: Das prädikative Denken entspricht den Anforderungen der Mathematik, in logischen Beziehungen zu denken, sehr viel mehr als das funktionale Denken in kausalen Zusammenhängen.
Die Frage aber ist, wie den SchülerInnen der Stoff vermittelt wird — welches „Handwerkszeug“, also welche Art der Problemlösung angeboten wird. „Wenn Linkshänder Stoff immer mit einer Rechtshänderschere schneiden mußten und das ganze schief wurde, heißt das noch lange nicht, daß Linkshänder keinen Stoff schneiden können“, sagt Inge Schwank.
Fast wie die Erfindung einer Linkshänderschere ist demnach ein vom Institut für Mathematikdidaktik entwickeltes Lernprogramm zu verstehen, das seit einiger Zeit in Niedersachsen in einem offiziellen Schulversuch ausprobiert wird — in Bremen am privaten ökumenischen Gymnasium in Oberneuland. „Im Unterricht sollte nicht die schnelle Lösung, sondern das Nachdenken honoriert werden“, erklärt Inge Schwank.
Das Eindenken in Algorithmen, also das A und O in der Computerlogik, wird mit diesem Lernprogramm schon ab der siebten Klasse geübt. Die komplexen Rechenschritte, die im Computer schon bei einer einfachen Kopfrechenaufgabe ablaufen, können aber auf verschiedene Weise vermittelt werden. Dabei gibt es „prädikative“ und „funktionale“ Modelle: Erklärungsversuche mit Registermaschinen, beweglichen Zahnrädern und verdeckten Streichholzschachteln mitsamt Roboterhand. Im Unterricht werden beide Arten angeboten; die Denkweise der Mädchen ist nicht mehr außen vor.
Dr. Veit Schmitt, Mathelehrer am ökumenischen Gymnasium, wo seit zwei Jahren in jeweils zweimonatigen Phasen diese „ganz andere Art von Mathematik“ ausprobiert wird: „Da müßten Sie mal sehen, was bei uns los ist, wenn wir damit arbeiten! Das macht allen unheimlich viel Spaß — auch den Mädchen.“
Dieser Erfolg, der sich auch bei den anderen Schulversuchen eingestellt hat, ist allerdings eher auf die plakative Art der Unterrichtsgrundlagen zurückzuführen. „Die Ergebnisse der Forschung, was das spezielle Denken von Mädchen betrifft, sind noch nicht so weit fortgeschritten, daß ich als Lehrer damit was anfangen könnte“, sagt Schmitt, der selber als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Mathematikdidaktik gearbeitet hat.
So weit könnte es allerdings bald sein — und dann stellt sich die Frage der Koedukation: Sollte Mädchen und Jungen nicht die Mathematik auf die jeweils eigene Art beigebracht werden? „Das halte ich für kritisch“, sagt Inge Schwank. Schließlich gibt es ja auch Jungen, die wie die meisten Mädchen denken. Und umgekehrt. „Heute werden die männlichen Denkmodelle immer bevorzugt. Optimal wäre es, wenn beide Denkansätze im Unterricht Platz hätten. Aber das muß erstmal in die Köpfe der PädagogInnen...“ Susanne Kaiser
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