Ist demokratiefähig, wer Mord billigt?

Eine Geschichte, zu der man sich beim Einigungsvertrag nicht bekennen wollte, macht Anstalten, das Land einzuholen/ Gedanken zum 9.November aus der Sicht eines Juden  ■ Von Peter Ambros

Der 9.November 1938 war ein Tag des Rückfalls in die Barbarei. Es war der Tag, an dem jeder zivilisierte Bürger gemerkt haben muß, daß sein Land von verantwortungslosen Abenteurern gelenkt wird, denn ein Pogrom, dem keine staatliche Gewalt entgegengesetzt wird, zeugt von Abwesenheit der zivilisierten Gesellschaft.

Und seit Jahrzehnten geschieht etwas seltsames im Umgang mit diesem Tag. Von Anfang an, seit der Wiederbegründung des jüdischen Lebens nach der Katastrophe, waren es die Juden in Deutschland, die den 9.November nicht vorbeistreichen ließen, ohne unserer Toten zu gedenken, die entweder an jenem 9.November 1938 oder während der danachfolgenden Jahre, im Zuge der in Deutschland dann schon zügellos entfesselten Barbarei ermordet wurden.

Die Reaktionen, die wir dabei von großen Teilen unserer nichtjüdischen Umwelt erfahren, sind dabei verblüffend. Man könnte meinen, die Juden seien es gewesen, welche in jener schrecklichen Nacht die Synagogen in Brand gesteckt, welche die Straßen deutscher Städte mit Splittern zerbrochener Schaufenster bedeckt, welche Menschen genötigt, geschlagen und ermordet haben. Man könnte meinen, die Opfer und nicht die Täter sind wegen des Unbehagens schuldig zu sprechen, mit dem sich diese Nation gegen die Erinnerung an jene Zeit wehrt.

Und dabei tut mehr als nur die Erinnerung not. Denn das Wort „Pogrom“, das hierzulande nur noch am 9.November den Politikern von den Lippen ging, ist in die deutsche Realität unserer Tage zurückgekehrt.

Natürlich ist die nazistische Bestialität nicht mit den rechtsradikalen Umtrieben zu vergleichen. Aber – und das erinnert an den 9.November 1938 – wir sind seit über einem Jahr – seit Hoyerswerda – Zeugen einer Entwicklung, an der das Schlimmste ist – und das ist vergleichbar –, daß sich ihr niemand in überzeugender Weise in den Weg stellt.

Ich übergehe schweigend jene Jugendlichen, welche die Gewalt offen austragen. Ich übergehe sie, weil es zum Glück relativ wenige sind und weil sie die Grenze bereits überschritten haben, bis zu der eine politische Auseinandersetzung noch Früchte tragen kann. Eine Antwort auf die von ihnen geübte Gewalt kann nur die staatlich legitimierte Gegengewalt darstellen, und zwar mit ihrer ganzen Härte und Strenge, angemessen der Kriminalität ihrer Taten, ohne Pardon, ohne Wenn und Aber.

Nicht übergehen will ich die Ordnungskräfte einer Stadt wie Rostock, die ihre Effizienz demonstrieren konnten, als es galt, einige Dutzend jüdische Demonstranten zu verhaften, die sich aber überfordert zeigten, als eine Meute aus demoralisierten jugendlichen Kriminellen sich anschickte, Menschen in einem umstellten Gebäude lebendig zu verbrennen. Welche Ordnung sollen denn diese Kräfte hüten? Wo bleiben die politischen Konsequenzen aus diesem Skandal? Sind es wirklich nur wir, die Juden in Deutschland, die den Gedanken nicht akzeptieren mögen, daß ein Pogrom in Deutschland 1992 staatlicherseits geduldet werden könnte?

Und da sind die sogenannten aufrechten Bürger von Rostock, die das verbrecherische Treiben lächelnd und mit Klatschen beobachteten. Man steht stumm und fragt sich angesichts dieser wohlgenährten und gut angezogenen Familienväter – was kann sie zu so viel Bösartigkeit getrieben haben? Welche Art von Feigheit und Heuchelei steckt dahinter, wenn es auf den ersten Blick rechtschaffene Bürger nach dem Blut ihrer Mitmenschen gelüstet, das sie auch gerne fließen sehen würden, sich in der Straffreiheit der Zuschauenden wiegend? Sind Menschen, die Mord billigend in Kauf nehmen, demokratiefähig?

Und das ist das eigentlich Erschreckende an der gegenwärtigen Entwicklung: Die Ratlosigkeit, die letztendlich die verantwortlichen Politiker zeigen. Verbale Verurteilungen besitzen nicht die notwendige Kraft, um die verhängnisvolle Entwicklung aufzuhalten oder umzulenken. Und leider gehen die Verurteilungen auch noch Hand in Hand mit einer Doppelzüngigkeit, die die Demokraten irritieren muß und den potenziellen Randalierer ermuntern kann. Wäre Rostock das biblische Sodom, so wäre es spätestens seit dem unerhörten Ausspruch des lokalen Politikers hoffnungslos verloren, der den Platz für einen Juden nicht in Deutschland ortet.

Genau in die gleiche Kerbe schlägt die insgesamt anrüchige und im Zusammenhang der aktuellen Ausschreitungen geradezu ominöse Debatte über den Artikel 16 des Grundgesetzes. Das Recht auf Asyl ist eine Errungenschaft, die in diesem Land als eine der – leider offensichtlich viel zu wenigen – Lehren aus der Vergangenheit in einer Zeit gezogen wurde, als das Vergessen noch nicht möglich war. All diejenigen, welche die nationalsozialistische Zeit überleben konnten, weil ihnen ein zivilisiertes Land Asyl gewährte, wissen dieses Recht zu schätzen. Es abzuschwächen oder gar abzubauen, bedeutet Zeichen setzen, bedeutet auch sich abgrenzen wollen von einer Phase der historischen Entwicklung, die man überwunden zu haben meint. Und diese Abgrenzung begann schon vor der Asyldebatte. So bei der Weigerung der politischen Parteien, während der Verhandlungen um den Einigungsvertrag zwischen den damaligen beiden deutschen Staaten, sich in einer Präambel zum Vertrag zur Verantwortung für die gemeinsame Geschichte zu bekennen. Seitdem die diesbezügliche Initiative des Zentralrates der Juden in Deutschland abgelehnt wurde, zeigt sich immer deutlicher, daß die Geschichte, zu der man sich nicht öffentlich bekennen wollte, um so bedrohlicher Anstalten macht, das Land einzuholen.

Aber das eigentlich Problematische an der Asyldebatte ist nicht einmal, daß sie verläuft, sondern unter welchen Bedingungen sie verläuft. Es gibt den tagespolitischen Aspekt, die Tatsache nämlich, daß die demokratiefeindlichen Kräfte eine Bestätigung für die Stoßrichtung ihrer Umtriebe von der Tagesordnung des Bundestages ablesen können: Man beklatscht ihr Tun zwar nicht, läßt sie dennoch indirekt wissen, daß es nützlich ist. Soweit eine Parallele von der Doppelzüngigkeit der Politiker zu den applaudierenden rechtschaffenen Bürgern vom Rostocker Bürgersteig. Das eigentliche Übel eines zweifelhaften Demokratieverständnisses steckt allerdings darin, daß es zugelassen wird, eine so wichtige Entscheidung, wie eine Verfassungsänderung es ist, unter dem Druck der emotionell angeheizten Straße heranreifen zu lassen.

Der 9.November als Tag des ersten demokratischen Staatswesens auf dem deutschen Boden, der Weimarer Republik, ist fast in Vergessenheit geraten, und ich meine, daß auch das als ein Zeichen dafür gedeutet werden sollte, daß mangelnder Respekt gegenüber demokratischen Werten böse Folgen haben kann. Adolf Hitler unternahm zwei Versuche, den von ihm gehaßten Tag der Verfassung buchstäblich zu verdrängen, mit seinen Untaten zu verdecken. Der erste Versuch – sein Münchner Putsch im Jahre 1923 – ist gescheitert, der zweite gelang in verhängnisvoller Weise und führte in den dritten deutschen November, den von 1938.

Wir sind es unseren Toten und – nicht nur unseren – Kindern schuldig, daß die Erinnerung an den 9.November 1938 Verpflichtung für die Zukunft ist.

Der Autor ist Mitarbeiter der Jüdischen Gemeinde