"Frau Holle weiß mehr vom Leben"

■ betr.: "Die Verzauberung der Provinz (Märchenhaftes von der deutschen Märchenstraße), taz vom 31.10.92

betr.: „Die Verzauberung der Provinz (Märchenhaftes von der deutschen Märchenstraße),

taz vom 31.10.92

[...] Seit Jahren beschäftigen sich hier Jugendliche und Erwachsene in „Spurensuche“-Projekten mit den historischen Wurzeln ihres Lebensraumes. Aus dieser Tradition ist als Beispiel für Kulturarbeit auf dem Land das Theaterprojekt mit dem bezeichnenden Titel „Frau Holle weiß mehr vom Leben“ entstanden. Die intensive Beschäftigung mit den Sagen um Frau Holle brachte ein differenziertes und hochaktuelles Bild von Frau Holle zum Vorschein.

Sie ist nicht die bettenschüttelnde Märchentante – wie Christel Burghoff meint –, sondern verkörpert als matriarchale Göttin das vorchristliche ganzheitliche Weltbild. Es gibt viele Parallelen zu indianischen Kulturen. Die eindimensionale Denkweise der heutigen naturwissenschaftlich-technisch geprägten, industrialisierten Welt wird so in Frage gestellt. Es eröffnen sich angesichts umfassender ökologischer Krisen neue Perspektiven.

So gesehen ist das Märchen von Frau Holle keine Anleitung für gute Hausfrauen, sondern es beschreibt die Initiation von Frauen in die matriarchale Welt. Es weist den Weg vom Mädchen zur jungen Frau als Prozeß der Erlangung einer höheren Bewußtseinsebene. Die Pechmarie wollte das Gold holen und hatte nur das Ziel vor Augen, ohne sich in die Bedingungen des Lebenskreislaufes einzuordnen. Sie verkörpert letztlich das Prinzip der Umweltzerstörung (Ingrid Pee). Die romantisierende, patriarchal geprägte Darstellung der Frau Holle durch die Gebrüder Grimm erschwert diese Art des Zugangs. (vgl. auch: Sonja Rüttner-Cova: Frau Holle – Die gestürzte Götting; Märchen, Mythen, Matriarchat, Sphinx, 1988)

Die Art der Verteufelung der Provinz, die Christel Burghoff mit ihrem Märchenstraßen-Reisebericht betreibt, unterstützt die Tendenz, deutsche Kultur an den Milliarden zu messen, die in großstädtische Mammutprojekte eingekaufter Broadway-Musical fließen. Statt dessen wäre eine breite finanzielle Unterstützung von Kulturprojekten auf dem Lande sinnvoll. Diese Arbeit ermöglicht nämlich neue Begegnungen mit der Region und ihren Menschen. [...] Susanne Hobert,

Wilfried Richtert, Witzenhausen