Die DDR, ein Aquarium

■ Bukowskis „Halbwertzeit der Kanarienvögel“ am Kleisttheater Frankfurt/Oder

In den vergangenen Monaten war viel über einen bis dahin unbekannten jungen Dramatiker aus der ehemaligen DDR zu lesen. An seinen Namen erinnert man sich sofort, weil er auch einem anderen Autor gehört, der nun schon alt und natürlich berühmt ist. Oliver Bukowski heißt er, der aufsteigende Stern. Seine Stücke werden plötzlich eins nach dem anderen in Berlin und Umgebung zur Aufführung gebracht, denn Dramatiker, zumal aus dem Osten, die sich der jüngsten politischen Entwicklungen annehmen, sind noch immer rar. In Potsdam kam vor kurzem „Die Inszenierung eines Kusses“ zur Uraufführung, und nach den Freien Kammerspielen Magdeburg spielt nun das Kleisttheater in Frankfurt/Oder „Die Halbwertzeit der Kanarienvögel“ nach.

Und doch ist diese dreistündige Inszenierung an der Probebühne des Kleisttheaters von Armin Petras, einem jungen und gleichfalls aus der DDR stammenden Regisseur, etwas ganz anderes, höchstens ein halber Bukowski. Und sie ist vor allem das, was man sich dieser Tage von Frank Castorf an der Berliner Volksbühne gewünscht hätte: die Aufarbeitung der DDR- Geschichte mit allen Mitteln, polemisch, gefühlvoll und parodistisch zugleich. Ein geradezu überbordender (und nicht immer ganz kontrollierter) Ideenreichtum regiert die Inszenierung von Petras. Sie läßt das eigentliche Stück Bukowskis, den inneren Monolog einer Fahrkartenkontrolleurin, die sich auch außerhalb ihrer Arbeit als Kontrolleurin und Spionin, als ein fieses und armseliges Tratschweib betätigt, fast blaß werden. Die Monologpartien am Krankenbett ihres Mannes, auf unterschiedliche Phasen – vor, während und nach dem Zusammenbruch der DDR – verteilt, können kaum standhalten gegenüber den Spielszenen, in denen die kolportierte Wirklichkeit wörtlich und bildlich genommen wird. Ihre Nachbarin, die Spinnerte von gegenüber, der Sohn, der angeblich bei der Stasi war, all die papierenen Figuren des Stückes erwachen zum Leben, lassen ihre Geschichten Revue passieren, schlüpfen in andere Rollen, agieren wie toll. Die DDR, ein Irrenhaus.

Nicht etwa ein Vogelkäfig, sondern ein Aquarium hängt im Raum, in dessen grünlichem Licht ein Fisch umherschwimmt. Eine Frau studiert eine Illustrierte der Art, die sich um Ach und Weh der lieben Kleinen kümmert. Liebevoll holt sie den zappelnden Fisch aus dem Aquarium, streichelt ihn wie ein kleines Vögelchen, bis er sich beruhigt hat. Dann stellt sie fest, daß ihr Patient tot ist – ihm ist wohl die Luft ausgegangen. Verzweifelt haut die Frau auf das Tier ein, schlägt es ein zweites Mal tot.

Kanarienvögel, sagt die Frau, benutzen sie in den Bergwerksstollen, um die Luft zu testen. Und meint, als Versuchstiere würden nun die Ostdeutschen benutzt. Die Denunziantin stilisiert sich zum Opfer. Eine Frau, die gern ausging, es liebte, sich schick anzuziehen, von einem schwerelosen Dasein träumte – ein Mensch mit der Psyche eines Kanarienvogels, immer zwitschernd, säuselnd, gurrend. Atemlose Stille entsteht, als die Seitentür der Probebühne aufgeht und der Monolog der Frau unterbrochen wird: Auf einem Trapez schwingt ein bläulich schimmerndes Vogelwesen in den Raum, minutenlang flattert es an einem dünnen Stück Holz, ein schöner Traum. Dieser Vogelmensch nimmt die sterbende Frau am Ende auf seinen Rücken und trägt sie davon.

Ihr Mann ist bereits vorher gestorben. Das Bein wird von der Krankenschwester mit einer Säge amputiert, das Blut spritzt wie aus einer Fontäne – draußen knallt das Feuerwerk der Vereinigung. Die Krankenschwester verwandelt sich in den Sohn der Frau, auf den sich nun, nach dem Tod der Eltern, die Nachbarn stürzen. Sie entkleiden ihn, und indem sie die Gummistrapse seines Büstenhalters langziehen und zurückschnellen lassen, quälen sie den Transvestiten, das Muttersöhnchen, den Andersseienden. Ein gewaltsames Coming- out beider Parteien. Der Sohn berichtet vom Pionierlager, von der warmen Enge, die er vermißt, leitet über zu einer Revue mit fliegendem Rollenwechsel, in der die Schauspieler in die verschiedensten DDR-Biographien schlüpfen. Fiktion und Improvisation mischen sich mit Dokumentarischem.

Auch die Schauspieler verarbeiten offensichtlich Wut oder vielmehr eine gewisse Fassungslosigkeit angesichts dessen, wo sie waren, wo sie sind. Sie stehen auf der Bühne ihres Lebens, was will man mehr im und vom Theater? Sabine Seifert

Oliver Bukowski: „Die Halbwertzeit der Kanarienvögel“. Regie: Armin Petras. Bühne: Philipp Stölzl. Kleisttheater Frankfurt/ Oder. Nächste Aufführungen: 9. und 30. November.