Nur Namen sind unsterblich

Bernard de Fontenelles „Totengespräche“  ■ Von Marie-Luise Bott

Zwei Jahre lang mußte man auf das Erscheinen der längst angekündigten „Totengespräche“ von Bernard de Fontenelle warten. Aber das Warten hat sich gelohnt. Und das ist, sagen wir's gleich vorneweg, vor allem das Verdienst des Übersetzers und Herausgebers Hans-Horst Henschen. Seine deutsche Fassung des französischen Frühaufklärers ist treffsicher und geschmeidig. Die Lektüre seiner fortlaufend unter dem Text abgedruckten Anmerkungen zu den historischen Personen der „Totengespräche“ ist stilistisch ein Genuß. Denn auch hier bleibt Henschen dem Stilideal seines Autors, dem anmutigen „Witz“ verpflichtet – etwa, wenn er das Bild des Dichters Anakreon mit leichter Hand von den gängigen Plattheiten („Wein, Weib und Gesang“) befreit.

Außerdem hat Henschen die antike Gattung der Totengespräche, die um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert geradezu Mode wurde, eigens in einem Anhang mit Textbeispielen von Lukian bis hin zu Arno Schmidt dokumentiert. Und schließlich hat er unter dem Titel „Fernglas-Phantasien“ ein Nachwort zu den „Totengesprächen“ von Fontenelle geschrieben, mit dem jede Rezension dieses Buches vergeblich wetteifern würde. Henschen vermittelt da den Einblick und die Weitsicht eines ebenso sachkundigen wie leidenschaftlichen Liebhabers. Und eben das hat ist jeder gute Übersetzer zu sein.

Doch worin liegt der Reiz dieser leider ganz und gar fiktiven Totengespräche? „Hier unten“, wie es landläufig heißt, begegnen sich historisch reale Gestalten, Hohe und Niedrige, Ungleichzeitige, Widersacher, sterblich und unsterblich Geliebte, Erzfeinde und -feindinnen und können, von allen ehrgeizigen Zielen ihres vergangenen Lebens befreit, endlich einmal Tacheles reden.

Mit Lust führt Fontenelle die gegensätzlichsten Personen zusammen: den Satiriker Aretino und Kaiser Augustus, der zu Lebzeiten die Panegyriker — zu deutsch: Lobhudler — vorzog, obgleich doch diese, wie Aretino ihm klarlegt, die eigentlichen Menschenverächter sind.

Ein Drama in Miniaturform oder besser gesagt: eine kurze Komödie läuft vor unseren Augen ab. Es ist wie in der Fabel. Nur heißen die Protagonisten hier nicht die Füchsin und der Gänserich, sondern zum Beispiel Phryne und Alexander der Große. Auch wird zuletzt niemand gefressen, denn alle sind bereits entleibt. Aber das Spiel ist doch ähnlich. Vorab nennt Fontenelle die Personen der Handlung, deren Unterschiedlichkeit schon in die dramatische Szene einführt. Darunter setzt er das Thema ihres Gesprächs, womit der Konflikt benannt ist. Und dann nimmt ein Wortduell seinen Lauf, das unerwartet in eine Maxime mündet. Die aber, das ist oberste Spielregel, hat nie etwas plump Belehrendes. Vielmehr präsentiert sie die Einsicht in einer pointierten Wendung stets ebenso geistreich wie graziös.

Da trifft zum Beispiel der Welteroberer Alexander der Große auf die berühmte Hetäre Phryne, die 700 Jahre nach ihm Männer ohne Zahl eroberte. Und nun wetteifern beide darin, wer von ihnen das meiste Aufsehen erregt habe. Phrynes Apologie ist köstlich: Sie sei eine liebenswerte Eroberin gewesen; ihrer Schönheit, die ihr großen Reichtum einbrachte, wäre es ein leichtes gewesen, das wiederaufzubauen, was Alexanders Machtgier niederriß; und eigentlich gebühre Alexanders Ruhm doch seinen Soldaten; ihren Ruhm aber verdanke sie ganz dem eigenen Können. Freimütig gesteht Phryne, es wie Alexander mit den Eroberungen etwas übertrieben zu haben. Aber — und nun kommt die Schlußpirouette — es seien eben nicht die vernünftigsten Charaktere, die in der Welt Aufsehen erregten.

Erkenntnis als zierliches Menuett: Nicht der waffenstarrende Mann, sondern die anmutige Dame gewinnt den Preis. Dialoge als Sittenkritik, Enthüllungspsychologie als Rollenspiel. Gesellschaftlich vorgegebene Hierarchien werden durchbrochen. Das scheinbar Widersinnige verblüfft unerwartet und triumphiert. Und niemand, wie groß oder berühmt er auch sei, bleibt ausgenommen von diesem Reigen, in dem bei aller Heiterkeit und Satire auch leise Melancholie über die Unvollkommenheit alles Menschlichen mitschwingt.

Der Liedermacher Anakreon etwa wagt zu behaupten, daß es schwieriger sei, so zu singen, wie er es tat, als so zu philosophieren, wie der große Aristoteles philosophierte. Denn der sei nicht zuerst mit sich selbst ins Reine gekommen, wie jeder Sänger es muß, bevor er singen kann. Und er habe auch nicht die nächsten irdischen Angelegenheiten und Leidenschaften betrachtet — wie es eigentlich Aufgabe der Philosophie sei —, sondern möglichst ferne Planetenumläufe berechnet, womit sich natürlich das Dasein des Philosophen angenehmer gestalten läßt.

Nicht jener Plato, der über die schattenhafte Erkenntnis des Schönen zu sprechen wußte, begegnet uns „hier unten“, sondern der Verfasser erotischer Jugendepigramme, der der prüden Margarethe von Schottland klarmacht, daß es in der Liebe auf Körperlichkeit ankomme.

Diese wunderbar respektlosen Dialoge aus dem Jahr 1683 orientieren sich an der Natur menschlicher Vernunft und Leidenschaft. Sie halten sich ganz an das Wirkliche. Und so arbeiten sie mit am Entstehen der Demokratie. In Frankreich sollte es noch fast 100 Jahre bis dahin dauern. In Deutschland aber, das Fontenelles „Totengespräche“ erst mit 40jähriger Verspätung in der Übersetzung von Gottsched kennenlernte, vergingen noch etliche Jahrzehnte mehr.

Nicht zufällig hatten bürgerlich- demokratisch gesonnene Aufklärer wie Lessing oder Wieland ein starkes Faible für die Totengespräche. Denn in Wahrheit gibt es doch nur zwei große Demokraten auf dieser Erde, für die ohne Ansehen von Stand, Erfolg, Macht und Besitz die Menschen wirklich gleich sind: den Tod und die Liebe.

Übrigens aber schrieb diese beherzt frechen „Totengespräche“ ein Mann von gerade 26 Jahren, der fast 100 Jahre alt werden sollte.

Fontenelle, ein Neffe des Theaterdichters Corneille, hat sein eigenes Credo wohl am besten im Dialog Molières mit Paracelsus formuliert. Schon aus dessen Anrede als „Schweizer Philosoph“ klingt unbändige Lachlust. Der Verfasser des „buches der erkanndtnus“ brüstet sich damit, die Natur der „Genien und Elementargeister“ erkannt zu haben. Molière spielt zerknirschte Bewunderung: Was ist es auch schon, „die Menschen zu durchschauen, die man Tag für Tag vor Augen hat“, – ein Kinderspiel, nicht wahr? Er, der Komödienschreiber, gab sich törichterweise ein Leben lang damit ab, die Torheiten der Menschen zu studieren. Und doch vermutete er: „Wer für die Unsterblichkeit malen will, muß Narren malen.“

Bernard de Fontenelle: „Totengespräche“, aus dem Französischen übers., kommentiert und mit Dossier und Nachwort versehen von Hans-Horst Henschen. Eichborn Verlag 1991, 427 Seiten, Reihe: Die Andere Bibliothek, hrsg. v. H.M. Enzensberger, 44 DM.