■ Die Demonstration in Berlin kann Trendwende sein
: Ein Zeichen der Hoffnung

Es kann wunderschön sein, wenn man sich irrt. Eine Demonstration für die Würde des Menschen, mitveranstaltet von denen, die so häufig für die Erniedrigung so vieler verantwortlich waren, was sollte wohl daraus werden? Ein staatstragendes Fähnchenschwingen für die Korrespondenten der New York Times und der Jerusalem Post, eine durchsichtige Heuchelei fürs Ausland eben. Da kann man gar nicht hingehen, war eine in linken Kreisen weitverbreitete Auffassung im Vorfeld, da läuft man doch nur für Kohl Staffage.

Was dann am Sonntag passierte, war meilenweit von dieser Prognose entfernt. Bereits auf dem Weg zum Treffpunkt des einen Demonstrationszuges zeichnete sich ab, daß ein erstaunliches Ereignis bevorstand. Die U-Bahnen faßten die Massen nicht, die Leute liefen bereits in einem Demonstrationszug zum geplanten Treffpunkt. Wer trotzdem über den Charakter der Demonstration noch im unklaren war, mußte spätestens nach einem Blick über den endlosen Zug seine Vorurteile aufgeben. Hier trotteten keine herangekarrten Parteimitglieder hinter ihrer Führung her, sondern hier gaben Hunderttausende ihrem seit längerem aufgestauten Unmut über die drohende Rechtsentwicklung in Deutschland einen beredten Ausdruck.

Demo-erprobte Linke standen staunend am Straßenrand und wollten ihren Augen nicht trauen, als ein Ende des Zuges einfach nicht in Sicht war. Wo kamen bloß die Leute alle her, und warum hört und sieht man sonst nichts von ihnen? Niemand hatte mit diesen Massen gerechnet, erst recht nicht nach dem teilweise kleinlichen Hickhack im Vorfeld. Dabei war diese Demonstration nicht in erster Linie eine der beliebten Gegendemos. Es ging nicht gegen Atomwaffen, gegen AKWs und noch nicht mal in erster Linie gegen Rechts. Es ging um ein Zeichen für eine offene, bunte und zivile Gesellschaft.

Das Ärgerliche an den Aktionen der Autonomen war vor allem, daß sie das nicht verstanden, nicht begriffen haben, daß ihre Störaktionen sich gegen eine Demonstration richteten, die gar nicht stattfand. Der von der CDU vielleicht gewünschte Aufmarsch zur Unterstützung der Bundesregierung in ihrer Außenpolitik fand ja gar nicht statt. Die Masse hatte das Ereignis längst umfunktioniert in eine Manifestation nicht zuletzt für den Erhalt eines Rechtes auf Asyl in der Verfassung. Die Diskussion im Vorfeld, es solle kein Redner für die Beibehaltung des Artikels 16 auftreten und man sich deshalb auf den kleinsten gemeinsamen Nenner Bundespräsident einige, wurde im Demonstrationszug tausendfach konterkariert.

Ein Grund, warum die Aktionen einiger Hundert Autonomer nun solch ein Gewicht bekommen, ist der über das Fernsehen vermittelte kleine Ausschnitt einer viel komplexeren Realität. Hinzu kommt aber auch, daß die enttäuschten Mitorganisatoren wie Diepgen die Eierwürfe begierig aufgriffen, um schlecht zu machen, was ihnen insgesamt nicht gefiel. Hätte es die Autonomen zwischen dem politischen Establishment und den über 300.000 Kundgebungsteilnehmern nicht gegeben, Kohl, Lafontaine und Diepgen wäre erst richtig klargeworden, wie einsam sie an diesem Tag waren. Jürgen Gottschlich