Gewalt, Dumpfheit, Tücke

■ Antoine Uitdehaag inszeniert Horvath in Mainz

Über die Ehefrau des Stationsvorstandes Hudetz spricht das ganze Dorf. Kalt soll sie sein und den wesentlich jüngeren Mann mit ihrer Eifersucht zugrunde richten, meinen die wetterwendischen Dorfbewohner. Sie ist die Ausgestoßene, mitsamt ihrem Bruder, am Ende aber kehrt sie rehabilitiert zurück. Es war doch kein Meineid, als sie ihren Mann schwer belastete: Hudetz vergaß in der Tat, ein Signal zu stellen, worauf der Express in einen Güterzug raste. Jetzt sitzt sie am Tisch, mit herabgezogenen Mundwinkeln, vertrocknet und selbstgerecht wie alle im Dorf, die im nächsten Moment aus tiefster Überzeugung das Gegenteil dessen sagen, was sie eben noch meinten.

Margit Schulte-Tigges spielt die geheuchelte Arglosigkeit der Frau Hudetz und versteht es gleichzeitig, die Augen so tückisch blitzen zu lassen, daß zu sehen ist, wie schamlos sie ihre vermeintliche Unschuld auskostet. Für Sekunden wird deutlich, was unter der Dumpfheit von Horvaths Figuren lauert. Ihr gegenüber sitzt der Bruder, aus dem Winfried Küppers den guten Menschen macht, der er in „Der jüngste Tag“ nun einmal ist und von dem man nicht so recht weiß, ob Horvath ihn nur brauchte, um aus der Schwester die Tücke hervorzulocken.

Wir sind in Mainz, wo Anna Badora seit geraumer Zeit mit kluger Hand ein Schauspiel aufbaut, das in der derzeitigen Orientierungslosigkeit und den Struktur- und Finanzproblemen der Theater ein Lichtblick ist. Jetzt hat sie den niederländischen Regisseur Antoine Uitdehaag geholt, der Direktor des Rotterdamer Ro-Theaters war und letzte Spielzeit schon einmal in Deutschland – in Stuttgart – inszenierte. Seine Entscheidung für Horvaths letztes Stück wirkt alles andere als beliebig: Es ist in starkem Maße von einer präfaschistischen Atmosphäre getragen, einer Atmosphäre, die Horvath sehr gut kannte. Mehrfach geriet er unter prügelnde Jungnazis, dann mußte er fliehen. Die Uraufführungsdaten seiner letzten Stücke markieren den Weg in die Emigration. Der „Jüngste Tag“ etwa wurde nicht mehr im Deutschen Theater Berlin, sondern im Deutschen Theater in Mährisch-Ostrau uraufgeführt. Ende 1937 war das, fünf Monate bevor er in Paris auf dem Weg zu Filmregisseur Robert Sidomak von einem herabstürzenden Ast erschlagen wurde. Von hier aus wäre es weiter nach Hollywood gegangen.

Zwangsläufig, meint man, denn Horvaths Stücke lesen sich wie Kriminalromane und Vorlagen für Filme, in denen Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und Dummheit regieren. Die Parallelen zu den Brandanschlägen auf Asylbewerberheime liegen auf der Hand. Uitdehaag allerdings tat gut daran, sie nicht plakativ auszustellen, sondern den „Jüngsten Tag“ aus den Figuren heraus zu entwickeln. Im Zentrum Michael Abendroth, der den Stationsvorstand Hudetz als einen zur Feder gespannten Beamten spielt. Und dann passiert ihm das! Die junge Anna küßt ihn, und er vergißt das Signal. Von nun an irren die Gedanken umher, wirkt der Beamte, als könne jederzeit ein unsicheres Kind zum Vorschein kommen, das nicht böse sein müßte, dann aber doch die Anna tötet. Man könnte bei Hitchcock gelandet sein und einen jener Psychopathen vor sich haben, die morden und danach von nichts mehr wissen, so banal sind die Sätze des Hudetz, während sie doch alles Elend dieser Welt ausdrücken. In seinen stärksten Momenten erweckt Michael Abendroth den Eindruck, einer sehe sich selbst zu, wie er ins Unglück rennt.

Ab und an allerdings langt Uitdehaag zu deftig hin, und dann darf Ellen Knür eine derartige Frau Leimgruber abgeben, daß die bösartige Tratsche des Dorfes ins Possenhafte abgleitet. Als der Stationsvorstand aus der Untersuchungshaft entlassen wird, hält der Wirt des Dorfes eine Ansprache, und auch hier ist Uitdehaags inszenatorische Balance für kurze Zeit hin und weg. Der Wirt spricht so abgehackt und herrenmenschlerisch, als stünde Hitler selbst auf der Bühne.

Wie die Neger in Amerika tät man sie lynchen, die Frau Hudetz, wenn sie sich noch einmal im Dorf zeigen würde, sagt der Wirt an anderer Stelle. Und dann trifft es seine Tochter, für deren Drama ganz andere Regeln gelten. Im Kraftfeld zwischen ihr und dem Stationsvorstand lotet Horvath die Frage aus, ob überhaupt von Schuld gesprochen werden kann. Hudetz wurde durch die Koketterie Annas abgelenkt, das Mädchen allerdings konnte nicht wissen, daß er just in diesem Moment ein Signal zu stellen hatte. Anna schwört einen Meineid, zerbricht schier daran, und dann kommt Hudetz aus der Untersuchungshaft zurück, er, der scheinbar so ganz anders ist als ihr dumpfer Bräutigam. Der Stationsvorstand entpuppt sich als Selbstgerechter und glaubt, er trage keine Schuld. Der jungen Anna schiebt sich eine doppelte Last ins Gemüt: Sie allein soll schuldig sein, und es existiert nicht einmal ein geheimes Unglücksband zwischen ihr und ihm. Wenn die beiden das aushandeln, inszeniert Uitdehaag eilig über die Situation hinweg, und Chris Nonnast bleibt wenig Zeit, sich als Anna an den merkwürdigen Stationsvorstand heranzutasten. Bald wird sie tot sein, und in Mainz rächt sich, daß man von Anfang an zu sehr nur auf die Koketterie des Mädchens gesetzt hat. Jürgen Berger

Ödön von Horvath: „Der jüngste Tag“. Regie: Antoine Uitdehaag. Bühne: Achim Römer. Kostüme: Erika Landertinger. Mit Michael Abendroth, Margit Schulte-Tigges, Winfried Küppers, Jo Kärn, Chris Nonnast. Staatstheater Mainz. Nächste Vorstellungen: 13.,16. und 26.November