Die Musik ist nicht mehr gut, Sex ist out

■ Drogen, Exzesse, Initiation: Mit seinen Fotografien hat sich Larry Clark einen Namen gemacht. In der Galerie Barbara Weiss ist zu sehen, wovon Clark nicht lassen kann. Mit dem abgeklärten Amerikaner, zwanzig Jahre nach „Tulsa“, sprach Harald Fricke

Als Sproß einer Familie von Familienfotografen ist Larry Clark groß geworden, in einem der ödesten Winkel der USA, Tulsa, Oklahoma. Ende der fünfziger Jahre begann er, mit anderen Drogen zu nehmen, die Kamera immer dabei. Das Protokoll der Exzesse veröffentlichte Clark in den Büchern „Tulsa“ (1971) und „Teenage Lust“ (1983). Während die strengen frühen Fotografien, wie jetzt in der Galerie Barbara Weiss in Berlin, zu Kunstmarktpreisen als vintage prints feilgeboten werden, hat Clark umgestellt auf eine krude inszenierte Fotografie: männliche Jugendliche als Anti-Modelle der Teenie-Kommerzmaschine. Clark, nach eigenem Bekunden clean, hat sich an der Ostküste der USA etabliert. Während er unserem Autor Einblick gab in sein – ungewöhnliches – Verhältnis zu Bildern, Leuten und ihren Wünschen, lief im Nebenraum ein Video einer New Yorker Talk-Show, in dem Teenager freimütig ihre Erlebnisse zum besten geben. uez

taz: Greift wirklich keine Fernsehanstalt in die Debatten ein, wenn die Gespräche explizit werden?

Larry Clark: Nein, nicht in dieser Show. Du kannst wirklich sagen, was du willst. So ist die Gesetzgebung bei den Kabelsendern. In einer Show gab es eine Liveschaltung per Telefon, bei der sich eine Menge Kids zugeschaltet hatten. Ich habe dann Großaufnahmen mit dem Gesicht des Moderators gemacht. Anders als in Sendungen mit Erwachsenen haben die Jugendlichen die Situation ausgenutzt und extreme Dinge gesagt. Es war reine Anarchie, sie konnten im Fernsehen reden wie sonst auf der Straße.

Gab es danach nicht eine Welle der Empörung, die sich gegen die Verantwortlichen richtete?

Nein, es war kein Problem. Solange der Zugang privat bleibt, kann man eben alles senden. Dort gibt es Sexshows, was du sonst nirgendwo sehen kannst. Dafür mußt du natürlich bezahlen. In New York habe ich vier von diesen Videoaufnahmen in einer Galerie gezeigt, jeweils in einer Ecke des Raumes. Die Monitore waren zur Wand ausgerichtet, so daß die Besucher sich hinter das Gerät stellen mußten. Dadurch wurde die Konfrontation größer, man konnte die Zuschauer beobachten.

Stehen diese Fotografien in Verbindung zu Ihren früheren Arbeiten?

Wieso fragen Sie; Schreiben Sie für eine Fotozeitschrift?

Nein, es wäre nur interessant, den Zusammenhang zwischen Charakter und Verfahren herauszufinden. Nan Goldin zum Beispiel ist dieser Bezug wichtig. Wie denken Sie heute über Ihre Bilder aus der „Tulsa“-Periode, die ein familienartiges Kommuneleben dokumentieren. Was war Ihre Rolle in dieser Szene?

Meine Freunde und ich, wir sind alle gemeinsam in Tulsa, Oklahoma, groß geworden. Irgendwann haben wir angefangen, zusammen Drogen zu nehmen. Das war in den späten fünfziger Jahren, als Drogen noch ein großes Geheimnis waren. Nichts wurde darüber geschrieben, es gab keine Aufklärung, gar nichts. Wir waren also Pioniere der Drogenszene. So führten wir ein Leben im Geheimen. Meine Mutter fotografierte derweil Babys, das war ihr Job. Ab meinem 16. Lebensjahr habe ich in unserem Geschäft mitgearbeitet, und selbst mit Baby-Fotos angefangen. Deshalb hatte ich ständig meine Kamera dabei, für eilige Aufträge. Also lebte ich zwischen den Bildern und meinen Amphetaminen. Es war normal, mit der Kamera in der Gruppe zu erscheinen, und Aufnahmen von unseren Treffen zu machen. Statt bei der Baby-Fotografie zu bleiben, habe ich dann festgestellt, was ich in Wirklichkeit für Bilder von unserem Leben machen konnte, was sonst niemand zu sehen bekam. Ich habe danach die Fotografie gezielter an meinen Freunden ausprobiert. Das war für mich völlig normal, denn „Larry hatte ja die Kamera“. Ich war eben in der Szene, und habe für zehn Jahre damit gearbeitet.

Und keiner fühlte sich davon gestört?

Nein, ich gehörte doch dazu. Es war das Natürlichste von der Welt. Erst in den späten sechziger Jahren veränderte sich die Situation, als die Hippie-Bewegung Amerika eroberte, und die Öffentlichkeit zum erstenmal mitbekam, was Drogen für die Jugend bedeuteten. Plötzlich gab es eine Drogenkultur, und niemand wußte darüber Bescheid. Ich aber hatte die Fotos. So kam 1971 das Buch „Tulsa“ auf den Markt, das alle diese Aktivitäten über zehn Jahre wiedergab. Es war erstaunlich. Leute lernten aus diesem Buch etwas über das Leben.

Aber spätestens an diesem Punkt hätten ihre Freunde doch mißtrauisch werden müssen, daß sie ihre Privatheit verlieren könnten?

Wieso? Nein, da kannten wir uns schon gar nicht mehr und keiner von damals interessierte sich dafür. Meine Leica-Kamera war immer so leise gewesen, daß sie keiner überhaupt wahrgenommen hat. Der Klang einer Leica ist so wunderbar, daß sie jeder akzeptiert.

Aber die Personen wurden durch die Fotos zu Stellvertretern einer ganzen Kultur?

Vergessen Sie nicht, daß ein Abhängiger sich über andere Dinge Gedanken macht. Er braucht Stoff...

Heute klären die Medien über Drogenmißbrauch auf. Gerade um der Kids willen, die die Beschaffungskriminalität in die Höhe treiben. Wie sind die Jugendlichen früher damit umgegangen? Ihre „Brother/Sister“-Arbeiten sind in dieser Hinsicht von Sex und Gewalt geprägt, so wie der Junge mit dem erigierten Penis, der seine nackte, gefesselte „Schwester“ mit der Pistole bedroht.

Ich habe meine Aufnahmen gemacht, von denen man heute sagt, sie seien das wirkliche Leben gewesen. Für mich war es aber ein Spiel. Wie im Film. Die nächste Generation hat das alles erst als Wirklichkeit interpretiert. Ich hatte nur die Kamera. Später habe ich dann wirklich mit inszenierter Fotografie begonnen. Das war aber eine völlig andere Sache. Als jemand zu dieser Zeit Warhol mein „Tulsa“-Buch zeigte, fand er es „zu real“. Dabei war ich auf Porträts getrimmt worden, meine ganze Herangehensweise, mein Stil, alles. Wenn wir zusammensaßen, nahm ich die Situation immer statisch wahr. Mich interessierten die Gesten und Haltungen nur in ihrem Bezug zur Zeit des Augenblicks, den ich im Foto festzuhalten versuchte. Das waren die Baby- Bilder, auch wenn sie einen Jugendlichen mit einer 44er (Pistole, d. A.) zeigten. Es waren Schnappschüsse. Ich weiß nicht einmal, ob das Geschwisterpaar tatsächlich verwandt war.

Das Foto hat aber tatsächlich mit Sex, Gewalt und Drogenkonsum zu tun. In Rehabilitationszentren für jugendliche Abhängige ist eines der größten Probleme der Inszest. Viele Therapeuten, mit denen ich gesprochen habe, erzählen, daß der Geschlechtsverkehr zwischen Geschwistern wesentlich eine Folge des Drogenkonsums ist, ein Symptom der Droge selbst. Das ist ein großes Problem: Bruder und Schwester probieren zum erstenmal heimlich Acid oder LSD zusammen aus, dann sind sie high, und gehen miteinander ins Bett. Sex und Drogen waren ja immer ein und dieselbe Sache, auch zu unserer Zeit drehte sich alles um Ficken und Highsein. Noch Jahre nachdem ich die Fotos gemacht hatte, haben sich Generationen in ihnen wiedererkannt, die Zusammenhänge sind die alten geblieben. Selbst ein heutiger Jungstudent kennt sie, auch wenn heute alle Welt weiß, daß Drogen schlecht sind, und du Herpes oder Aids bekommen kannst. Die Leute haben erst im letzten Jahrzehnt angefangen, sich zu ändern. Die Musik ist nicht mehr gut, Sex ist out. Aber ich mache nur Witze, es ist wirklich alles noch wie früher. Selbst Acid ist wieder in Mode gekommen.

Sind die Leute heute noch in der gleichen Weise enthemmt wie in den sechziger Jahren, oder ist nicht vielmehr der Körper zum Objekt geworden, über das gerade die Medien verfügen? Was hat sich da verändert? Ist das nicht alles Teensex, von Brooke Shields bis Madonna, alles trainierte, transparente Körperbilder, während man vor dem Körper immer mehr Angst bekommt?

Das stimmt nicht. Auf meinen Fotos sieht man keine überagierenden Models, es sind immer noch Teenager, die sich und ihre Sexualität entdecken. Das sind die wirklichen Menschen und nicht Madonna.

Ist der Junge, der sich auf Ihrem Foto die Pulsadern aufschneidet, nicht ebenso unwirklich, oder Jeffrey Dahmer?

Ich weiß nicht, was diese Mythologisierung von Ikonen der Gewalt soll. Letztens hat mir jemand zur Vernissage ein T-Shirt mit dem Konterfei von Dahmer als Geschenk mitgebracht. Ich habe mich höflich bedankt und das Hemd nachher in den Mülleimer geschmissen. Wer zum Teufel will solche T-Shirts? Aber wenn du von einem Foto hier in der Galerie sprichst, das ist anders entstanden. Der Junge kommt von der Straße. Ich sah ihn in einem Punkklub und fragte, ob er mit mir Fotos machen will. Er wollte. Dann habe ich ihn mit ins Atelier genommen, weil mein Lebenswandel heute ein anderer ist: ich kann nicht mehr bis zum Exzeß mein Leben auf der Straße verbringen und dort meine Motive suchen. Ich brauche den Abstand. Im Atelier konnte er machen, was er wollte. Ich habe nur versucht, seine Wünsche zu dokumentieren. Also hat er mit der Rasierklinge gespielt, wie man ein Selbstmörder ist. Der Schnitt verläuft quer. Daran stirbt man nicht, und das wußte er auch. Wir haben insofern nur miteinander gespielt, obwohl wir beide wußten, wie es in Wirklichkeit funktioniert.

Was hat das aber mit seinem Leben zu tun? Er ist doch Punk und kein Model?

Es hat ihm Spaß gemacht. Das ist eben ein Teil der Arbeit. Als er die Fotos gesehen hat, war er enttäuscht, weil sie ihm zu realistisch waren. Aber das ist mein Interesse an dem Job. Ich mache keine tollen Fotos, ich suche nach meinem Verhältnis zu der Person, wahrscheinlich suche ich sogar immer nur nach mir selbst. Im Grunde macht mich Fotografie krank.

Und was verbindet Sie dann heute noch mit den Fotos aus Tulsa und den Kids von der Straße?

Als ich im Atelier wieder anfing, hatte ich mit Drogen Schluß gemacht und geheiratet. Ich war aufs Land gezogen. Mir ging es darum, mich nun nicht mehr zu wiederholen. Deswegen habe ich die Bilder aus dem Alltag der Kids mit den Berichten in Zeitungen verbunden, um auf das Verhältnis von Selbstdarstellung und Interpretation aufmerksam zu machen.

Nan Goldin hat sich einen Zugang zur Wirklichkeit über Moral erarbeitet, Sie versuchen Strukturen zu produzieren. Sie zeigen Objekte, Nan Goldin zeigt Subjekte in einer Balance zu ihrer Umwelt.

Ich zeige Bilder von Teenagern, wie ich selbst gerne einer wäre, oder zumindest gewesen wäre. Ich hatte Probleme mit meiner Jugend. Ich wollte immer der Mensch sein, den ich fotografiert habe, und nicht ich selbst. Vielleicht habe ich meine ganze Jugend gar nicht erlebt. Deswegen begeistert mich ihr selbstverständlicher Umgang mit dem Leben, so wie im aktuellen Fall eines 13jährigen Jungen, der ein Verhältnis mit einer 30jährigen Frau hat und nun Vater wird. Mich interessiert nicht dessen Geschichte, sondern seine Einstellung dazu.

Dann sind alle Fotos das Reale eines imaginären Larry Clark?

Exakt. Das bin alles ich, selbst in den ungewöhnlichsten Situationen: auch der 15jährige Junge, den ich dabei fotografiert habe, wie er von einer Prostituierten oral bedient wird. Da will sonst niemand zuschauen, aber ich war dabei.