„Du sollst dir kein Bildnis machen“

Experimentalfilme über den Holocaust nach Lanzmanns „Shoah“  ■ Von Mariam Niroumand

In den letzten Jahren ist die Erinnerungskultur, wie sie vor allem in den Vereinigten Staaten und Israel in Holocaust-Gedenkstätten und in literarischen/künstlerischen Zeugnissen gepflegt wird, zunehmend unter Beschuß geraten. Von „Holocaust Kitsch“ sprach Amishai Margalit in der „New York Review of Books“; von der „Sakralisierung des Holocaust“ und dem „Holocaust als Ersatzreligion für Assimilierte und Atheisten“ schrieb der Historiker Adi Ophir in Tikkun, einem linken Magazin für jüdische Kultur und Politik. Gemeint sind Inszenierungen wie der verdunkelte Kinderraum in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem, in dem Kerzenlichter Fotos von jüdischen Kindern erleuchten und im Hintergrund „Mama“- Rufe von einem Band gespielt werden.

Aber auch die ästhetische Gegenposition, es dürfe nur abstrakte Umkreisungen des Themas geben, weil sich der Mord an sechs Millionen europäischen Juden eben der Repräsentation entziehe, wird kritisiert. „Du sollst dir kein Bildnis machen“, schreibt Ophir, sei ein falsches Gebot dieser neuen Ersatzreligion. Es sei direkt mit dem ersten Gebot „Du sollst keinen anderen Holocaust haben neben mir“ verbunden und werde mit der Unvergleichbarkeit des Holocaust begründet, die weder er noch seine Mitstreiter im Kreis um Tikkun für gegeben halten. Postmoderne Repräsentationstheorien tragen das ihre dazu bei, alle Versuche der mimetischen Darstellung zu diskreditieren.

Kaum eine Zunft war so sehr von diesen beiden Kritiken betroffen wie der Film. Lange Zeit hatte Alain Resnais „Nacht und Nebel“ (Frankreich, 1955) wegen seiner schweigenden Konfrontation der heutigen, nichtssagenden Landschaft um Auschwitz mit Aufnahmen aus „Triumph des Willens“ oder Filmmaterial der Alliierten bei der Befreiung von Bergen-Belsen als Maßstab filmischer Möglichkeiten gegolten.

Nach der Kultivierung von oral history, der mündlichen Geschichtsüberlieferung „von unten“, wurde er aber ersetzt durch Marcel Ophuls Film „Le Chagrin et la Pitie“ (1969), eine Montage von Interviews, die auf Identifikation, Wahrheitsfindung und Gerechtigkeit abzielte.

Obwohl beide entscheidenden Einfluß auf Claude Lanzmanns „Shoah“ (1985) hatten, weicht dieser an ganz entscheidenden Punkten von ihrer Ästhetik ab. Auch seine Kamera kreist still über das verdorrte Gras in Chelmo, umzirkelt polnische Kirchen und Dörfer, blickt auf den See bei Sobibor. Aber er vermeidet jede Chronologie („die Opfer sind auch nicht zu ihrer Zeit gestorben“), er will von seinen Gesprächspartnern keine anekdotischen Überlebensgeschichten hören. Er will evozieren statt zeigen, will den Akt des Erinnerns verfilmen. Ganz im Sinn des Historikers Raoul Hilberg vermeidet er die direkte Beantwortung der „großen Fragen“, indem er ausschließlich unmittelbaren Zeugen der Vernichtung genaue Schilderungen der Techniken und Umstände abverlangt.

Fast schien es, als könne man nach „Shoah“ keinen Film mehr über Auschwitz machen. Die Montage, die Struktur des Films insgesamt, wie auch jede einzelne Einstellung, umkreist das Problem der Repräsentation. So demonstriert „Shoah“ ständig seine eigene Unmöglichkeit. Immer neu muß der Film dem Nichts entwunden werden. Lanzmann selbst sagte in einem Interview mit der taz, er kenne kein anderes adäquates filmisches Dokument, schon gar keinen Spielfilm: „Wenn es ein Spielfilm ist, ist es kein Film über Auschwitz.“ „Shoah“ umschließt und vereinzelt den Zuschauer auch durch seine Dauer von über neun Stunden; der Gestus ist der eines „letzten Films“.

Diese Position schien spätestens nach der Ausstrahlung so verfehlter Kitschprodukte wie der amerikanischen Fernsehserie „Holocaust“, in dem die Vernichtung der europäischen Juden zum tragischen Finale einer Familiensaga degradiert wurde, oder der diversen filmischen Operetten, die den Holocaust als ein gigantisches erotisches S/M-Unternehmen stilisierten („Cabaret“ von Bob Fosse, 1975; „Die Verdammten“, 1969; oder „Der Nachtportier“, 1974) völlig gerechtfertigt.

Die in den letzten Jahren erschienenen Pornofilme, die in Konzentrationslager-Nachbauten gedreht worden sind („Deportierte Frauen – Spezialsektion der SS“) wirken da nur noch wie die Wiederkehr des mühsam Verdrängten, schlecht Verhohlenen. Gerade aber diese Verpöntesten aller Filme rufen ins Bewußtsein, wie nah selbst die Aufnahmen der Alliierten bei der Befreiung der Vernichtungslager, die viele der Pornos zum direkten Vorbild gewählt haben, an der Obszönität sind.

Die Auseinandersetzungen um „Shoah“ einerseits und die „Holocaust“-Serie andererseits hatten immerhin zur Folge, daß nun über die Ästhetik solcher Filme gesprochen werden konnte.

Wo die Trennung zwischen Fiktion und Dokument in sich zusammenzufallen schien, konnte man getrost sowohl Spiel- als auch Dokumentarfilme als Kunstprodukte behandeln. Das Wort „Kunstprodukte“ gewann allerdings einen eigentümlichen Beigeschmack, wenn von Filmmaterial die Rede war, das noch von den Nazis selbst gedreht worden war.

So hatten beispielsweise jahrelang Dokumentar- und Spielfilme unwissentlich Filmmaterial aus dem Warschauer Ghetto benutzt, von dem sich erst Jahre später herausstellte, daß SS-Leute die gefilmten Passanten gezwungen hatten, unbeteiligt an Leichen oder allein herumstehenden Kindern vorbeizugehen. „Sie wollten der Welt zeigen: Kuckt mal, so gehen Juden miteinander um, wenn sich unter sich sind“, erklärte Sharon Rivo, die Leiterin des National Center for Jewish Film in Massachusetts.

Hier schlug natürlich die große Stunde des Experimentalfilms, der schon in den sechziger Jahren angefangen hatte, gefundenes Filmmaterial aus Spielfilmen, Wochenschauen oder Archiven zu demontieren.

Dan Weissman benutzte kühn den Propagandafilm „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“, mit dem bewiesen werden sollte, daß Theresienstadt eine Art Sanatorium sei. Weissman ließ eine Aufnahme von einer Gruppe Kinder, die mit einer Erzieherin zwischen zwei Häusern im Sonnenschein vorbeigehen, immer und immer wieder in Zeitlupe ablaufen. Plötzlich erkennt man, was bei normalem Tempo nicht zu sehen war: die panische Angst, als eines der Kinder aus der Reihe springt, den Dreck, die abgemagerten Hände. So beweist Weissman beides: daß Film lügen und daß er nicht lügen kann.

Der erste, und nach wie vor einer der intelligentesten und schönsten Experimentalfilme zum Thema Holocaust, „Urban Peasants, An Essay in Jewish Structuralism“ (1930–75) stammt von Ken Jacobs, einem Veteranen der Avantgardefilm-Bewegung in den USA. Er war entstanden, nachdem er im Kühlschrank der Tante seiner Frau neben den gefrorenen Hühnchen einige Filmrollen entdeckt hatte. Beim Auftauen stellte sich heraus, daß die Tante einen Ausflug ihrer Familie 1944 in einen Park bei Brooklyn gefilmt hatte. Die Überbelichtungen, Holprigkeiten und Unschärfen des Materials kamen Jacobs Wunsch nach künstlerischer Unprätentiosität gerade recht. Die Kratzer waren geradezu ein Wahrheitskriterium, verglichen mit der polierten Oberfläche eines Hollywood-Dramas. Die Familie amüsiert sich: Babies werden in die Kamera gehalten, dicke Küsse verteilt, posiert, Oma und Opa legen sich zum Nickerchen ins Gras.

Diese stummen Bilder kontrastiert Jacobs mit Tonsequenzen, zu denen man nur eine rote Leinwand sieht. Es ist eine Jiddisch-Sprachlektion. Man kann dabei lernen, in Jiddisch nach einem Hotel zu fragen, so als gäbe es, nach dem Untergang der jüdischen Lebenswelten im Osten, noch irgendeinen Ort auf der Welt, an dem man sich in Jiddisch durchschlagen müßte. Der eigentliche Film entsteht im Kopf des Zuschauers: Nur eine Drehung des Globus, ein hauchdünner Zufall, hat diese Familie vor der Vernichtung bewahrt.

Auch der Experimentalfilm versperrt sich der sakralen, weihevollen Verklärung des Holocaust. Einige Jahre, nachdem Art Spiegelmans Comic „Maus“ erschienen war, in dem die Odyssee seines Vaters von Chestochowa in Polen über Auschwitz bis nach New York im Medium der Popular Cultur erzählt wird, drehte Abraham Ravett „Everything's for You“ (1989) für seinen Vater, der vom Ghetto Lodz nach Auschwitz deportiert worden war und der dort seine Frau und seine zwei Kinder verloren hatte. Ravett bringt alte Fotografien zum Flackern, als sähe man sie bei Kerzenlicht, dazwischen streut er Kinderzeichnungen, in denen er sich erinnert, wie sein Vater ihn einmal fast totschlug, weil er den Schlüssel verloren hatte. Aufnahmen im Park zeigen einen Streit zwischen Vater und Sohn, indem Ravett seinem Vater vorwirft, er habe nicht akzeptiert, daß seine Freundin keine Jüdin sei. Wie Spiegelman wehrt Ravett sich dagegen, daß das Überlebt-haben den Vater jenseits aller Kritik stellt. Wie in „Maus“ sieht man den Kampf mit der Schuld, die getöteten Geschwister überlebt zu haben, an deren Bedeutung für die Eltern man nie heranreichen kann. Ab und an zeigt Ravett sich mit seinem eigenen Sohn, den er nach seinem Vater „Chaim“ genannt hat, in einer Dusche stehend – ein ähnliches Mittel wie die Mäuseköpfe bei Spiegelman, die Gleichheit der Opfer herzustellen.

Weil der Film entstand, als Ravetts Vater schon gestorben war, laufen die Fragen nach der Vergangenheit, gestellt in jiddisch und englisch, fast gespenstisch ins Leere. Winzige Ausschnitte, Schnipsel von Fotos und Zetteln schwirren über die Leinwand. Durch ständige Wiederholungen einzelner Sequenzen, durch die Hilflosigkeit der Gespräche zwischen Vater und Sohn versinnbildlicht Ravett den verzweifelten Versuch, mit jemandem ins Reine zu kommen, der nicht mehr da ist.

Die eigene Autobiographie aus Fragmenten und Schnipseln neu zusammenzusetzen, das ist auch der Gestus von Dan Eisenbergs „Cooperation of Parts“, einer von eingeblendeten Sprichwörtern durchzogenen Reise nach Polen, der den Weg der Mutter aus einem Dorf nach Auschwitz rekonstruiert. „Der längste Weg führt von der Mutter zur Haustür“, lautet eines der Sprichwörter, die den Film lose zusammenhalten. Bilder von Dachau im Sonnenschein, von Puttenengeln, Zinntürmchen und Kopfsteingassen kontrastiert mit den Wachtürmen und dem Stacheldraht der Gedenkstätte in Dachau, deuten wieder die Mär von der Kulturnation an, deren Barock nur eine Tarnkappe über dem lauernden Höllenschlund ist.

Ganz im Sinne des postmodernen Anti-Essentialismus, der Identität als etwas Konstruiertes, nicht Gegebenes betrachtet, muß Eisenberg sich selbst aus den Trümmern extrapolieren, die von der Vergangenheit seiner Mutter übriggeblieben sind. In Amerika ist ihm oft der Vorwurf gemacht worden, sein Film sei narzißtisch, stelle die Fragilität der Selbstsuche über das Leiden der Mutter. Der Vorwurf ist absurd; und gerade wenn Eisenberg dagegen auftrumpft: „Ich habe verdammt noch mal auch ein Recht zu leben“, wird einem klar, daß gerade dieser Film ein Tribut an die Lagererfahrungen der Mutter war, die eben auch noch Eisenbergs Arbeit als Künstler bestimmt.

Den autobiographisch gehaltenen Filmen stehen die Mammutprojekte über Auschwitz als Mißgeburt der Zivilisation gegenüber. Bruce Elders „Illuminated Texts“ (1982) und Warren Sonberts „Short Fuse“ (1992) zitieren das gesamte Bild- und Bucharsenal der westlichen Zivilisation, von der Bibel über de Sade bis hin zu Derrida, und lassen Auschwitz nur als kurzen Moment in einer langen Fahrt zur Hölle erscheinen.

Völlig absorbiert vom eigenen Auftrag der Text-Dekonstruktion gerät so ein unverzichtbares Moment der traditionellen Dokumentarfilme über den Holocaust aus den Augen: daß nämlich der Wahrheitsanspruch, das Zeugnisablegen, eine ethische und nicht bloß eine bildästhetische Bedeutung hatte. Vor diesem hyper-kühlen „l'art pour l'art“ ist der autobiographische Experimentalfilm durch den persönlichen Verlust geschützt.

So begrüßenswert auch die Tatsache ist, daß Filme über den Holocaust nun endlich einer „normalen“ filmästhetischen Debatte zugänglich sind, so wenig können sie darin aufgehen.