: Heute will ich das erste Glas stehenlassen
■ Hamburgs Anonyme Alkoholiker feiern heute dreißigjähriges Bestehen / Am Buß- und Bettag lassen sich die trockenen Alkis in die Karten schauen
feiern heute dreißigjähriges Bestehen / Am Buß- und Bettag lassen sich die trockenen Alkis in die Karten schauen
„Mein Name ist Eva, ich bin Alkoholikerin. Es geht mir gut, denn ich bin trocken.“ So könnte ein Wortbeitrag in einem Meeting der Anonymen Alkoholiker (AA) beginnen. Keiner wird die Redende unterbrechen, niemand später direkt auf ihre Aussagen Bezug nehmen. Dialoge und Diskussionen sind bei AA verpönt. Man will aus den Erfahrungen anderer lernen, sie nicht kommentieren. Labern kann man anderswo!
„Die Gemeinschaft AA ist mit keiner Sekte, Konfession, Partei, Organisation oder Institution verbunden; sie will sich weder an öffentlichen Debatten beteiligen, noch zu irgendwelchen Streitfragen Stellung nehmen.“ So steht es in der Präambel, die zu Beginn jedes Meetings verlesen wird. Das geschieht im Raum Hamburg viele dutzendmal pro Woche. Etwa 150 Gruppen gibt es derzeit zwischen Pinneberg und Bergedorf, zwischen Norderstedt und Harburg. Heute vor genau dreißig Jahren gab es nur eine.
Am 13. November 1962 trafen
1sich in Eimsbüttel einige wenige Alkoholabhängige zum ersten AA- Meeting Hamburgs. Zwei oder drei von ihnen sind immer noch dabei, sind schon jahrzehntelang trocken — totalabstinent. Doch das würden sie in ihrer Gruppe so nie sagen. Bei AA werden nicht die Jahre der Abstinenz summiert, dort zählt immer nur der heutige Tag.
24 Stunden, das ist das AA-Maß aller Dinge. Die Last zweier fürchterlicher Ewigkeiten — gestern und morgen — kann kein Mensch tragen, wenn es gegen die Verlockungen seines Suchtmittels geht. Deshalb gilt: „Nur für heute will ich das erste Glas stehenlassen!“
Vordergründig hat AA schlichte Rezepte zu bieten: Aus den Erfahrungen anderer Betroffener lernen. Das erste Glas stehenlassen. Keine Abstinenzplanung über den Tag hinaus. Und: Kapitulation! Sie ist die Grundlage des Genesungsprozesses, wie AA ihn versteht. Aus bitterer Erfahrung wissen Alkoholiker, daß dem Suchtproblem allein mit Willenskraft nicht beizukommen ist. Gewolllt und gekämpft ha-
1ben manche jahrelang — und verloren. Sie mußten weitersaufen.
Der erste Schritt des Zwölf- Schritte-Programms der Anonymen Alkoholiker lautet: „Wir haben zugegeben, daß wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind — und unser Leben nicht mehr meistern konnten.“ Zur positiven Wende gibt es nur einen Weg, die Aufgabe des Kampfes mit dem Stoff, andauernde und völlige Enthaltsamkeit. Alkoholismus ist für AA eine unheilbare Krankheit, die nicht überwunden, die lediglich zum Stillstand gebracht werden kann. Ein Alkoholiker bleibt ein Alkoholiker bis an sein Lebensende — auch wenn er viele Jahre trocken ist.
Grundsätzlich sind sich AA und andere Selbsthilfeorganisationen über den chronischen Charakter der Alkoholkrankheit und die Notwendigkeit andauernder Abstinenz einig. AA aber zieht daraus die härteste Konsequenz. Nur dort ist die sich stets wiederholende Selbstentlarvung und -erinnerung angesagt: „Mein Name ist Adam, ich bin Alkoholiker.“ In Guttempler- oder
1Blaukreuzgruppen heißt es eher: „Ich war Alkoholiker.“ Oder: „Ich hatte ein Alkoholproblem.“ Derartige sprachliche Distanz zum Lebensthema Sucht ist auch den Anonymen Alkoholikern nicht fremd. Sie aber überwinden sie immer wieder.
Auch eine andere Distanz wird in AA-Gruppen aufgehoben, die der gesellschaftlichen Hierarchie. Beruf und soziale Stellung spielen in den Meetings keine Rolle. Dort kennt man nicht einmal die Nachnamen der Teilnehmer. Die Sucht macht alle gleich. Deshalb heißt es in der Präambel: „Die einzige Voraussetzung für die Zugehörigkeit ist der Wunsch, mit dem Trinken aufzuhören.“
Doch die Reduzierung auf Vornamen und gemeinsame Alkoholabhängigkeit birgt Nachteile. Häufig lassen sich individuelle Suchtkarriere und -probleme kaum losgelöst von der beruflichen Tätigkeit des Betroffenen schildern. Und auch nicht die Probleme, die die Trockenheit bietet. An vielen Arbeitsplätzen wird schließlich gesoffen — eine ständige Versuchung.
Gewiefte Meetingbesucher umschiffen die Tabubereiche mit weitschweifig-geheimnisvollen Erläuterungen. Und schließlich wissen doch alle: „Der da ist Journalist.“
Andere Selbsthilfegruppen ersparen sich solche rhetorischen Eiertänze. Und auch AA-Freunde wissen bald mehr übereinander, als in den Meetings gesagt wird. Viele Gruppen (oder deren harter Kern) treffen sich nach den offiziellen zwei Stunden zum sogenannten „Nachmeeting“ im Café oder Restaurant. Dort gelten dann die strengen Regeln nicht.
Die fast rituellen Gruppenregeln („Traditionen“) wie auch das Zwölf-Schritte-Programm stammen von den legendären AA-Gründern Bill und Bob, die sich 1935 in einer Kleinstadt im US-Staat Ohio trafen. Sie sprachen stundenlang über ihren Alkoholismus — und sie hörten sich zu. So erlebten sie das allererste AA-Meeting, ohne es zu wissen. Bill und Bob blieben trocken und gaben ihre gemeinsame Erfahrung an andere Trinker weiter, zuerst in Krankenhäusern, in denen sich Leidensgenossen durch die Entgiftung quälten. Ganz langsam wurde mehr daraus, entstand ein erdumspannendes Netz von Selbsthilfegruppen.
1953 kam AA nach Deutschland, durch einen US-Besatzungssoldaten, der zufällig auch Bob hieß. Master-Sergeant Bob veranstaltete mit anderen Angehörigen der US- Army ein öffentliches Informationsmeeting in einem Münchner Hotel. Dort traf er den Ingenieur Max, in dessen Wohnung die ersten regelmäßigen Gruppentreffen stattfanden. Max, der sich seine gesamte Existenz kaputtgesoffen hatte, gilt als der deutsche Ur-AA. Er übersetzte das Programm und weitere AA-Literatur aus dem Amerikanischen. Er war von seinem ersten Meeting bis zum Lebensende trocken.
Aber er war nicht unbedingt ein PR-Talent. Ihm reichte seine kleine Gruppe in seiner Wohnung. Deshalb bestanden die Anonymen Alkoholiker Deutschlands jahrelang aus vier, fünf Münchner Säufern, die sich selbst trockengelegt hatten. So kam denn die Initialzündung für die Hamburger AA-Gründung auch nicht aus München, sondern von einem britischen Alkoholiker namens Abel, der in der Hansestadt arbeitete.
Vor exakt drei Jahrzehnten war es dann soweit, das erste Meeting konnte steigen. Schon ein gutes Jahr danach mochten Hamburgs Anonyme Alkoholiker der ersten Stunde nicht mehr im eigenen Saft schmoren, wollten sie auch anderen Abhängigen die Chance zur Genesung durch AA bieten. Am 6. Dezember 1963 kam das „coming out“, das erste öffentliche Informationsmeeting. Solche offenen Treffs gibt es inzwischen immer wieder, und seit 1978 ist die „große“ Informationsveranstaltung dazugekommen — immer am Buß- und Bettag, immer im CCH (Mittwoch, 18. November, 10-16 Uhr, CCH, Saal 1). Dort sprechen professionelle Helfer über die Rolle von AA in der Behandlung der Alkoholabhängigkeit, dort erzählen trockene Alkoholiker aus ihrem Leben.
Sie reden von den Quälereien der Saufzeit, von all den Katastrophen, Verletzungen, Demütigungen und Widerwärtigkeiten. Sie reden von den Mühen der ersten Trockenzeit, von Mutlosigkeit und Rückfällen, aber auch von der Hoffnung. Und sie sprechen von den Freuden der Nüchternheit. Trockenheit und Nüchternheit sind für Anonyme Alkoholiker beileibe nicht identisch.
Trockenheit allein kann zu einer mechanischen und oberflächlichen Angelegenheit werden. Man läßt eben das erste Glas stehen. Doch das Denken und Handeln bleibt „naß“ — unklar und unberechenbar: Mal ist man der Größte, mal der letzte Arsch. Solche Schwankungen lassen mit der Zeit nach. Doch wenn nicht mehr geschieht, kommen „staubtrockene“ Gestalten dabei heraus, vor denen auch AA-Gruppen nicht gefeit sind. Manche Meetings kranken an den Auftritten selbstgefälliger „Oberalkoholiker“, die nicht mehr zu bieten haben als ihre aufdringliche Abstinenz. Da sind die Besoffenen, die natürlich auch in den Gruppen auftauchen, oft noch erträglicher.
Nüchternheit kann allein mit Nichttrinken kaum erreicht werden. Sie setzt einen intensiven Veränderungsprozeß nach dem Zwölf- Schritte-Programm voraus, der die gesamte Persönlichkeit erfaßt. Klarheit, Demut und Gelassenheit sind Eigenschaften, die der Alkoholiker braucht, um sich selbst gegenüber ehrlich zu werden, seine wahren Gefühle zu fühlen und seine Handlungen so zu sehen, wie sie wirklich sind. Der gesamte Gesundungsprozeß wird bei AA mit einer kräftigen Prise Spiritualität gewürzt.
Jedes Meeting endet mit dem gemeinsam gesprochenen Gebet: Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann — den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Das ist nicht jeder Frau und jedermanns Sache. Muß auch nicht. Das AA-Programm ist nicht für alle, die es brauchen. Es ist für alle, die es wollen. Jürgen Oetting
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