„Vivement Truffaut“

Eine Werkschau in der Filmbühne und im Institut Français  ■ Von Rolf Schüler

„Sie werden es nicht erleben, daß dieser Mann nach sechs Uhr abends Männergesellschaft erträgt“, meint ein Arbeitskollege Bertrand Moranes, des Mannes, der die Frauen liebte. Wir waren froh, diesen Satz im Kino zu hören, weil ein Mädchen neben uns saß. Tagsüber arbeitet Bertrand in einem Versuchslabor, das heißt, er spielt mit Flugzeugmodellen im Windkanal, „denn es ist unmöglich, von morgens bis abends miteinander zu schlafen. Deshalb hat man die Arbeit erfunden.“ Dieser melancholische Don Juan schreibt seine Erlebnisse in einem Buch nieder. Es ist eine Sammlung von Beutestücken, die uns Truffaut langsam ausbreitet. Er sah die Welt mit den Augen eines verliebten Diebes, der Spaß bei seiner Arbeit hatte. Das Kino wurde sein Versteck.

Truffauts Glücksfall im Leben war, André Bazin zu treffen, der sich um ihn kümmerte, der sein Ersatzvater wurde und der ihm die Türen des Kinos aufstieß. Truffaut fand darin mehr als eine Profession, sondern das ganze Leben. Kein Wunder, daß er sein Kino- Leben so schön wie möglich gestalten wollte und seine Arbeit so sah: „Der Film ist eine Frauen-, das heißt Schauspielerinnenkunst. Die Arbeit des Regisseurs besteht darin, hübsche Mädchen hübsche Dinge machen zu lassen.“ Ihm verdanken wir einige der schönsten Frauenporträts im Film: Bernadette Lafont, Jeanne Moreau, Marie-France Pisier, Catherine Deneuve und Fanny Ardant. Doch während die Frauenregisseure Ophüls, Bergman und Antonioni ihre Filme von der Phantasie ihrer weiblichen Figuren haben mitbewegen lassen, wirken Truffauts Frauen wie aus Männerbildern zusammengesetzt. Im Grunde verfilmte Truffaut immer wieder die eine Szene aus „Les Mistons“, in der die Jungen Bernadette Lafont heimlich beim Baden beobachten. Bei den Männern fand Truffaut mehr, nämlich sich selbst. Von Jean-Pierre Léaud über Oskar Werner, Charles Denner bis zu Jean-Louis Trintignant im letzten Film „Vivement dimanche!“ entwickelt sich eine aufregende Linie männlicher Fragilität. Truffaut legte, wenn er keine Filme mit Kindern drehte, die Kinder in diesen Männern frei. Verspielt sind sie, eine gewisse Liebe zur Anarchie eint sie und eine Ahnung, daß, wenn man etwas wirklich liebt, man besser nicht darum bittet, sondern es sich stehlen muß. In der „Amerikanischen Nacht“ träumt Truffaut: Ein kleiner Junge geht durch die nächtlichen Straßen zum Kino. Durch das verschlossene Filmgitter hindurch klaut er die Filmfotos von „Citicen Kane“.

Ein weiterer Glücksfall für das Kino war, daß Truffaut Jean- Pierre Léaud fand, der ihm seine Kindheit, Jugend und das (Nicht-)Erwachsenwerden nachspielen konnte. Die beiden erfanden ihr Leben im Kino neu. Zwei Männer liehen sich gegenseitig ihre Marotten; eine männliche Kinosymbiose, die die Lebensspanne von 13 bis 40 Jahren umfaßt, von „Les 400 Coups“ (1958) bis „L'Amour en fuite“ (1979). Eigentlich war Léaud der Darsteller der „Nouvelle Vague“, viel eher als Belmondo, der sich an amerikanischen Vorbildern entwickelte. An Léaud war alles neu, nichts erinnerte an die Traditionen eines Gérard Philipe oder Jean Gabin. In ihm löste sich alles Tragische auf.

In Truffauts zwanzigminütigem Erstling „Les Mistons“ (1957), einer Liebesgeschichte mit schlimmem Ausgang, steckt bereits sein ganzer Kinoentwurf. Wir sind immer auf seiten der unverschämten Kinder, die Bernadette Laffont und Gerard Blain auf dem Fahrrad, beim Baden, beim Tennisspielen und beim Küssen nachstellen. Ich werde nie vergessen, wie ein Junge an Bernadettes Sattel schnuppert. Der Film ist eine Huldigung an Renoir und Vido, und er ist erzählt wie ein kleiner amerikanischer Gangsterfilm. Eine Erzählstimme gibt die Sicherheit, die Geschichte flott zu erzählen, und schafft den Freiraum, trotzdem genug Zeit zu haben für die Momente, auf die es ankommt. Truffaut wurde ein Virtuose der Off- Stimme, er hat sie für das Kino wiedererfunden. Im Grunde sind alle Truffaut-Geschichten mit dieser Aura der Erinnerung umgeben, nicht erzählt von einem, der überlebt hat, sondern, wie in „L'Homme qui amait les femmes“, von einem, der schon tot ist, aber dessen Buch existiert.

Der schönste Nebenweg, Truffaut kennenzulernen, sind die Kritiken, die er von 1954 bis 1973 für die Cahiers du cinéma und Arts schrieb. Er nannte sie „Die Filme meines Lebens“, und tatsächlich schrieb er über Filme, als ginge es um sein Leben. Während wir bei den schreibenden Kollegen der Nouvelle Vague Godards analytische Intelligenz bewunderten, Rohmers subtile Transparenz und Rivettes arabeskenhafte Brillanz, nahmen uns Truffauts kraftvolle Polemiken und zärtliche Liebeserklärungen gefangen. Für Truffaut hatte jeder Film, der etwas taugte, seinen Platz irgendwo zwischen Hitchcock und Rossellini. Es gab auf der einen Seite das Kino als Schaukunst und auf der anderen das individuelle Abenteuer. Er bewunderte beides; die Synthese erschien ihm in Jean Renoir, der das Leben und das Kino liebte und der sein Spiel so einfädeln konnte, daß das Leben sich in ihm verfing. Über ihn und Hitchcock machte er Bücher, mit Rossellini unternahm er – 1955 – eine Reise nach Spanien und Lissabon: „Roberto fährt Tag und Nacht, ich muß ihm Geschichten erzählen, um ihn wachzuhalten, und jedesmal, wenn er merkt, wie mir die Augen zufallen wollen, hält er mir ein geheimnisvolles Fläschchen unter die Nase.“ Ich stelle mir den kleinen, fragilen Mann vor neben dem dicken, robusten; wie sie nebeneinander sitzen im Ferrari und wie sie vielleicht zusammen ein Restaurant besuchen, der italienische Lebemann und der Franzose, der kaum etwas aß.

Franois Truffaut ist vor acht Jahren gestorben. Alle waren sie gekommen, die ihn liebten, Nestor Almendros Beschreibung der Beerdigung ist die Beschreibung einer Filmszene von Truffaut: ein Defilée von Frauenbeinen, die wie Zirkel die Welt ummessen. Die Filmbühne am Steinplatz und das Institut Franąis, Unter den Linden, zeigen alle Filme Truffauts und darüber hinaus noch ein paar andere, die mit ihm zu tun hatten. Dankenswerterweise haben sich die Veranstalter auch um Originalfassungen bemüht. Die Retrospektive trägt den schönen Titel „Vivement Truffaut“.

„Vivement Truffaut“, vom 12.–25.11. in der Filmbühne am Steinplatz (DF) und dem Institut Franąis (OF).