Nebenschauplätze

■ Castorfs Volksbühne: Uraufführung von Jochen Bergs „Fremde in der Nacht“, Andreas Kriegenburg inszeniert Lorca

Der Eröffnungsreigen der Berliner Volksbühne geht zu Ende in einem alten Kino und im Dachstudio des Hauses am Rosa Luxemburg-Platz. Es gibt mittlerweile bestimmte Insignien der Castorf-Inszenierungen, die beinahe Fetischcharakter haben: der Mielke-Hut etwa. Der ältere Mann vorne auf der Bühne wirft ihn den anderen Schauspielern vor die Füße, die auch prompt stramm stehen und das haßgeliebte Objekt grüßen. Wenn sich auch sonst alles in Auflösung befindet und die Menschen ihrer nicht mehr Herr werden, so schafft doch diese lächerliche Kopfbedeckung eins: Haltung annehmen, Ordnung schaffen. Aber das Ding liegt auf dem Boden. „Tu' ich's?“ fragt ein junger Mann rhetorisch, bevor er entschieden drauf springt. Die jungen Damen nähern sich ihm einzeln und geben dem Beherzten einen Kuß.

Ein Prolog über eine ordentliche Rebellion, wie er nicht im Buche steht. Frank Castorf hat diese Szene dem Text „Fremde in der Nacht“ des DDR-Dramatikers Jochen Berg eingefügt, eine von vielen improvisierten Szenen, wie sie während der Probenarbeit mit den Schauspielern entstehen. Ein anderes seiner Lieblingsobjekte ist die Banane, die bereits in Castorfs Inszenierung der „Rheinischen Rebellen“ ausgiebig in einer Slapsticknummer zum Einsatz kam. Die Selbstironie ist subtiler diesmal: die Menschen sind behaart wie Affen. Die Alten sind davon ausgenommen, sie gehören nicht zu diesem Stamm der langhaarigen Affen, jener Protestgeneration, zu der sich wohl auch der Regisseur selbst zählt. Tritt dann die protestantische Natur des Affen zutage, so ist das besonders erbaulich anzusehen. Ein Schauspieler erscheint vor dem Publikum: Bart und Haare in Jesustracht, formloses Hemd und ebenso formlose, kurze ausgebeulte Unterhosen, welche Brust- und Beinhaar keineswegs verschämt bedeckt halten, darüber ein Jackett – fertig ist der Typ friedensbewegter Protestmarschierer. Später sagt er dann auf sächsisch: „Nichts ist so, wie es ist. Ich sehs./ Und alles anders als die Bilder zeigen./ Der Feind hat die Häuser schon erobert./ Und spiegelt sich im Antlitz ein Verlangen./ Meine Antwort auf das Erscheinen ist:/ Der Feind im Kino erspart den Kampf im Freien.“

Jochen Bergs 1990/91 entstandenes Stück „Fremde in der Nacht“ spiegelt die Zeit zwischen Mauerfall und Vereinigung wie eine wüste Fieberphantasie, ein inszeniertes Medienspektakel, die Geschichte als Witz. Der Text kalauert allerdings mehr oder weniger müde vor sich hin, die Figuren heißen urdeutsch Siegried, Siegmund und Scheff, oder sie heißen gar nicht, sondern werden als „der Schweiger“, „der Vermummte“ oder „Mädchen 2/3/4“ bezeichnet. Frank Castorf ist mit dieser Inszenierung von der Volksbühne auf das benachbarte Babylon-Kino am Rosa-Luxemburg-Platz ausgewichen, das über einen hübsch runtergekommenen, aber relativ großen Zuschauerraum und eine Bühne mit verblichenem Goldrahmen verfügt. Eine Besonderheit hat die Babylon-Bühne: mehrere Treppenstufen verbinden Zuschauerraum und Bühne. Frank Schendler als einstiger Stasi-Spitzel, der sich gleich dem Nachrichtendienst der neuen Machthaber angedient hat, benutzt sie, als sei er der Conferencier einer abgeschmackten Schau.

Castorfs Bühnenbildner Bert Neumann hat auch auf der Bühne einen zweiten Zuschauerraum durch einige Klappstuhlreihen improvisiert. Mal schauen die Schauspieler aufs Publikum, mal sitzen sie selbst im Kino, wenn auf der Brandmauer des Bühnenraums Filmausschnitte gezeigt werden. (Parallel werden Spielfilmszenen über die Zeit des heroischen Kampfes für den Sozialismus gezeigt: hier Matrosenaufstand in Kiel, dort Lenins Büro.) Läuft gerade kein Film, so sind auf der Brandmauer vier blinde Fenster mit Spiegelglas sowie weiter unten vier in Kopfhöhe angebrachte Klappsitze zu sehen. Hoch oben leuchtet in grüner Neonschrift der Name „Margot“. Knastmauer, Bordell oder Discoschuppen?

Die Mädchen und der junge Mann hocken später auf diesen absurden Sitzen, Abbild einer trostlosen, orientierungslos gewordenen Generation. Ein Glatzkopf kommt, setzt sich eine Langhaarperücke auf (die Jugendlichen, die jetzt Randale machen, haben Haare gelassen) und schrummelt ein paar Akkorde auf einer E-Gitarre. Noch einmal läuft ein Film, Bilder vom letzten SED-Parteitag, der sich unter anderem der Familienplanung widmete. Frisch gebackene Eltern werden interviewt, ein Parteitagsbaby präsentiert, das im Jahr 2000 Jugendweihe haben wird: ungebrochener Optimismus, der durch das Bild der vier Personen, die mitten in der Projektionsfläche auf ihren Klappsitzen hocken, konterkariert wird.

Endlich einmal kein Klassiker („King Lear“) und keine literarische Vorlage („Rheinische Rebellen“), sondern ein Stück über das Ende der DDR, womit Castorf all das machen kann, was er in den vorherigen Inszenierungen auch gemacht hat: die Absurdität der Situation herauskitzeln, ein Stück DDR-Identität reklamieren und preisgeben. Das wirkt diesmal etwas befreiter, und unterliegt doch dem Wiederholungszwang. Nicht wettmachen läßt sich allerdings, daß der Text nicht standhält. Spannend ist, was Castorf hinzuerfunden hat. Doch neu ist das alles nicht. Bleibt die Erfahrung, daß es eben doch nicht ganz egal ist, wen Castorf seziert, was er inszeniert. Die DDR ist ein prächtiger Leichnam – noch.Sabine Seifert

Mit Lorca ins Stadttheater

Nur das giftige Grün einer schiefen Plastikebene ist von Don Perlimplins Garten geblieben. Darin kann er nicht lieben, das ist schon klar, er macht sich über Belisas Mutter her und frißt ihr die italienischen Trauben weg, die sie sich ins Haar gesteckt hat. Eine Anspielung auf weiland östliche Gelüste, wie auch der Braten mit Rotkohl nicht fehlt, das Gericht, das auch Transitreisende aus dem Westen kennen. Danach geiern Perlimplin, Belisa und Marcolfa, die liebende Dienerin im Unisono eines Schemas, das auch hier zu Schanden geritten wird. Es ist das Schema der Satzwiederholungen, die sich in Schreikrämpfen entladen.

Danach pflegen Castorfs wie Kriegenburgs Szenen weiterzugehen, als sei nichts gewesen. Es war ja auch nichts, der nächste Krampf folgt sogleich. Er folgt auch hier; das erste Drittel des geometrisch strengen Kammerspiels über das Alter, die Liebe und den Selbstbetrug von Garcia Lorca versorgt das Stammpublikum mit den Codes, die es liebt. Brav wird an passender Stelle gelacht, man weiß Bescheid.

Hier aber, im intimen Studio unter dem Dach wird der Mangel besonders fühlbar. Diese kraftmeierischen Inszenierungen sind in Wahrheit ziemlich hilflose, ängstliche Fluchtversuche vor den Forderungen eines fremden Textes. Eine fatale Ähnlichkeit mit der anderen ostdeutschen Psychose, der Wut, die sich in Anschlägen auf Flüchtlinge entlädt, zeichnet sich ab. Es geht nicht um Politik, weder bei der linken Volksbühne noch bei den rechten Schlägern und ihren stillen Gutheißern, es geht um das offenbar dringende Bedürfnis, die Welt den eigenen Maßstäben anzupassen. Was nicht nach dem Eingemachtem riecht, das wird umgerührt und auseinandergeschlagen, bis es paßt. „Das sind unsere Erfahrungen“, so lautet der Satz, der in der Volksbühne den Beifall formuliert, er gehört zur Castorfschen Repetitionsmaschine hinzu, und die Augne leuchten, wenn er fällt.

Nur paßt es halt nie, bei Lorca schon gar nicht. Andreas Kriegenburg scheint etwas davon bemerkt zu haben. Das läßt zumindest hoffen. Die szenischen Tobsuchtsanfälle werden seltener, hören im letzten Drittel ganz auf. Das Stück spielt sich selber, Olivia Grigolli als Belisa, Meral Yüzgülec als Marcolfa und Wilfried Loll als Don Perlimplin lassen sich tragen von Lorcas Sätzen und dann sogar erschüttern von der tödlichen Konstruktion des Spiels. Ein alter Mann täuscht seiner jungen Frau einen Liebhaber vor, tötet sich selbst, bevor sie die Wahrheit erfährt: Schön wird das gesprochen in der Volksbühne, nur hat es noch keinen Ort gefunden. Die Ehre, die Don Perlimplin verliert, ist nicht spanisch, nur ein wenig gekränkter Bürgerstolz, und auch die Sonne zwischen den Schenkeln der Frauen glüht nicht, sie ist zur bloßen Metapher geworden. Fast scheint es, als befinde sich die Volksbühne auf geradem Weg ins Stadttheater. Niklaus Hablützel

Jochen Berg: „Fremde in der Nacht“. Regie: Frank Castorf. Bühne: Bert Neumann. Mit Hildegard Alex, Jens Berthold, Gerhard Klisch, Wilfried Ortmann, Sophie Rois, Frank Schendler, Sabine Svoboda, Ulli Fritze. Babylon- Kino Mitte. Nächste Vorstellungen: 20.–22., 27./28. November

Garcia Lorca: „In seinem Garten liebt Don Perlimplin Belisa“. Regie: Andreas Kriegenburg, Bühne: Olaf Altmann. Mit Wilfried Loll, Olivia Grigollli, Meral Yüzgülec, Heide Kipp. Nächste Vorstellungen: 14., 24./25. November