„Die Große Fuge vergißt man nicht“

■ Probenbesuch und Interview: Walter Levin als „Coach“ / „Das kompromißloseste, rücksichtsloseste Stück Musik“ / Montag Aufführung

Eine Begegnung der besonderen Art: ein basisdemokratisch organisiertes Orchester, die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen. Und Walter Levin, fast 68jährig, international renommierter Geiger und Primus des LaSalle-Quartetts, mehrfacher Preisträger und Musikdozent in Basel, Paris, Cicago, engagiert von den selbstverwalteten MusikerInnen als 'Coach'. Tatort: ein wunderschön renovierter Gutshof in Fischerhude. Ein gewagtes Projekt: Beethovens Große Fuge, als umstrittenen letzten Streichquartett-Satz von Beethoven komponiert, von Levin für Streich-Orchester bearbeitet — und gespielt ohne Dirigent, mit der ganzen Konzentration und persönlichen Haftung der einzelnen.

Walter Levin kommt auf die Minute pünktlich zur Probe, und er weiß sehr genau, was er will. Die 21 MusikerInnen üben heute schon seit zwei Stunden, aufgeteilt in Quartette, und feilen an Sechzehntel-Noten, an minimalen Lautstärke-Unterschieden, an Varianten eines Vibrato-Fingerdrucks auf der Saite. Levin, mit Partitur, Bleistift und Stoppuhr, hört so vergnügt wie kritisch zu, läßt auch mal mit sich reden, aber besteht auf feinsten Nuancen: „Tenuto!! Aushalten! Keine Löcher!“ — „Ich will, daß nur ein Bass spielt ab dem tiefen G.“ Oder beide Bässe leiser? „Nein. Ich will es dünner haben, nicht leiser.“ Nach 2 Stunden Probe flüstern zwei MusikerInnen. Levin: „Ich versteh es nicht, wenn ich zur 2. Geige was sage, daß Ihr Euch dabei unterhaltet.“ Sind diese Takte zu langsam? Levin stellt als Gegenbeweis das Metronom auf, freut sich wie ein Junge: „Das ist nur ein verbreitetes Gefühl, daß es langsamer wird, bloß weil man leiser spielt.“

Ein Pausengespräch:

taz: Sie haben vor zwei Jahren mit der Deutschen Kammerphilharmonie die Große Fuge schon einmal einstudiert, in Ihrer Fassung für Streichorchester. Konnten die MusikerInnen jetzt denn noch alles?

Walter Levin: Ja: sie haben die Konzeption sehr weitgehend sehr gut behalten — ein schweres Stück! Leichtere Stücke vergißt man eher; die Große Fuge vergißt man nicht so leicht.

Haben Sie eine besondere Technik, um mit diesem selbstorganisierten Orchester zu proben? Eigentlich schlägt Ihr Herz doch für Kammermusik.

Wir haben die Streicher in 5 Quartette aufgeteilt, die Bassisten dazugesellt und das Stück einzeln, wie Kammermusik, gearbeitet. Das ist viel Arbeit, aber es bringt die Initiative des einzelnen ins Spiel — absolut entscheidend, wenn man ein so komplexes kontrapunktisches Stück wie Kammermusik spielen will — und zwar ohne Dirigenten! Ich arbeite ja nur als Coach.

Sie waren skeptisch...

Ich bin nach wie vor skeptisch! Es war ja von Anfang an ein problematisches Stück: geschrieben als letzter Satz von opus 130, dem Streichquartett, dann gleich davon abgelöst auf Raten der Freunde und des Verlegers, dann wurde es für 50 Jahre nach Beethovens Tod kaum gespielt, dann neu entdeckt von Orchesterdirigenten: meistens massiv, sehr schwer, und das tut dem Stück völlig unrecht!

Mich reizte an der Orchesterfassung: die Wucht, die dieses Stück brauchen kann, die man im Quartett nur mit größter Überanstrengung produziert — übrigens ein Teil des Reizes, daß es etwas fordert, was eigentlich unmöglich ist. Aber: ohne die Durchsichtigkeit, Genauigkeit zu verlieren...

Sie wollen mit dem Streichorchester Quartett spielen — und mit 21 MusikerInnen die vier Stimmen, ihr Geflecht, klar durchhörbar machen.

Ich will, daß man das Stück hört, die Vielfalt, das Kontrapunktische — was auch im Quartett schwierig ist. Wir haben ja hier zusätzlich die Bässe, da haben wir sehr differenziert gearbeitet. Bethoven selbst hat ja später die Bearbeitung für Klavier vierhändig gemacht als op. 134, und viel dran verändert, gerade an der Basslinie. Und wir sehen nach: Wo wollte er eigentlich eine tiefere Basslinie, als es das Cello hergibt? Wo sollte es ganz zart und dünn werden?

Sie haben ja an manchen Stellen die Bässe ganz oder halb zurückgenommen.

Ja. Eben. Genau da. Das gibt ein ganz wuchtiges, aber ganz durchsichtiges Klangbild. Ich will überhaupt nicht, daß das Stück dick und schwer wird.

Die MusikerInnen sagen, mit Hochachtung, daß Sie völlig kompromißlos sind in dem, was Sie musikalisch wollen. Wie kommen Sie als Coach mit denen und der Selbstverwaltung klar?

Es ist ein sehr demokratisches Orchester, aber sie sind auch sehr diszipliniert. Sie brauchen mich ja nicht einzuladen, aber sie kennen mich und haben es wieder getan. Wir haben, zum Beispiel mit den Bassisten, gemeinsam ausprobiert: geht das? Aber: Nur anhand der Partitur. Es ist nicht eine Frage von Geschmack, nicht irgendwelcher subjektiven Gefühle. Damit kann ich überhaupt nichts anfangen.

Die größte Tugend von Orchestermusikern, haben Sie mal gesagt, sei die Disziplin der Selbstverleugnung...

Ja: Den Dirigenten ist es am liebsten, wenn die Leute das nicht mal mehr merken. Das ist hier völlig anders. Das Orchester möchte beteiligt sein und hinter ihrer Interpretation stehen. Sie suchen sich bewußt - und erstaunlich reif! — Leute aus, die sie fordern.

Arnold Schönberg, der für seine allzu modern und schräg klingende Musik angefeindet wurde, hat einmal empfohlen, Beethovens Große Fuge vor seinen Quartetten zu spielen...

Oh ja, die berühmte Geschichte: denn danach klängen seinen eigene Stücke geradezu brav, romantisch und sehr schön. Die Große Fuge ist wahrscheinlich das modernste Stück aller Zeiten und ist es geblieben. Es ist das kompromißloseste, rücksichtsloseste Stück Musik, das je komponiert worden ist. Und da es zu seiner Zeit so meilenweit aus dem Kontext des Akzeptablen, Gängigen herausragte, hat es eine Sprengkraft behalten, die noch heute das Stück erschrecken macht: es klingt noch heute mehr nach Schönberg als nach Beethoven.

Legen Sie es darauf an, große dynamische Unterschiede herauszuarbeiten, das Laute besonders laut, das Leise besonders zart zu spielen?

Ich lege auf gar nichts an. Ich sehe, was in der Partitur enthalten ist. Dynamik ist bei Beethoven ein verselbständigter Parameter, nicht nur Unterstützung. Wenn in der Fuge der ganze erste lange Teil rücksichtslos fortissime mit sforzandi ist, und dann kommt ein langer Teil nichts als pianissimo pianissimo, dann möchte ich das nicht angleichen, verharmlosen. Was komponiert ist, möchte ich klar hören. Sonst nichts.

Fragen: Susanne Paas