Erst mal ein Begriff

Philosophen beim Straßburger „Carrefour“: die Stube von innen verriegelt  ■ Von Thierry Chervel

Jacques Derrida hat rote Socken an. Das etwas Unseriöse der Erscheinung gehört zu seiner Strategie. Ich erinnere mich, wie er vor ein paar Jahren einen Vortrag im überfüllten Audimax der FU hielt, mit einer irgendwie irritierend kurzen und breiten blauen Krawatte überm lachsfarbenen Hemd. Ein Modefriseur sprach über Kafka, Nasenhaare und das Gesetz. Das Publikum verharrte zwei Stunden wie hypnotisiert, obwohl man ziemlich sicher sein kann, daß viele ihn nicht verstanden, denn er sprach französisch.

„Europe“, sagt er in Straßburg beim „Carrefour des littératures européennes“, „c'est le nom d'un ètre ravi“. Europa ist der Name eines entführten Wesens, aber in französisch klingt es soviel zweideutiger, glanz- und verheißungsvoller. Und dann vollführt Derrida einen akrobatischen Tanz auf dem Grat des eben noch Sagbaren. Vom „port“ (Hafen) kommt er auf die Assoziationskette exporter und importer, supporter, reporter und vor allem déporter. Europa sei ein kolonialer Prozeß, eine europäische Kolonie. Europa komme von Auschwitz, denn immer wieder habe es versucht, „Identitäten“ zu formulieren, in deren Namen Differenzen ausgeschlossen wurden, habe es „Figuren“ aufgerichtet wie die des Ariers, in deren Namen deportiert und gemordet wurde. Überall dort also, wo von einer europäischen Identität geredet werde, müsse man ein wenig ikonoklastisch werden: denn eine Identität läßt sich nicht definieren. Gegen Ende seiner Rede sagt Derrida, auch schon wieder irritierend, weil so dringlich im Ton: „Lassen Sie uns hier vom Golfkrieg reden, ich wünsche es.“ Aber sein Wunsch erfüllt sich nicht.

Im letzten Jahr hatte Pierre Bourdieu beim „Carrefour“ ein „Parlament der europäischen Intellektuellen“ ausgerufen. Die serbischen und kroatischen Schriftsteller Makavjev und Karaulac, die in ihren Heimatländern als Verräter gelten, weil sie noch miteinander reden, forderten eine „neue Dissidenz“, die sich gegen die Zersplitterung Europas in messerscharfe Nationalismen und Xenophobien wenden sollte. Ein entsprechendes Manifest wurde formuliert.

Jetzt sagt Jean-Luc Nancy: „Europa ist erstmal ein Begriff.“ Merkwürdig: Inzwischen haben sich die Befürchtungen des letzten Jahres mehr als bestätigt, in Jugoslawien wurden Zehntausende umgebracht, Hunderttausende verjagt, weil sie der falschen Volksgruppe angehören, in Deutschland brandet die Welle der Ausländerfeindlichkeit so hoch, daß sich die Politiker eher zurückziehen als noch einen Widerstand zu bilden — und Europa ist erstmal ein Begriff?

Nancy leitete beim „Carrefour“ die Gruppe „Géophilosophie de l' Europe“, die in vier Arbeitssitzungen diesen „Begriff“ auseinandernahm, aber um Himmels willen nicht wieder zusammensetzen wollte. Teilnehmer waren unter anderen Etienne Balibar, Vaclav Belohradsky, Bernhard Waldenfels, Philippe Lacoue-Labarthe, Derrida und Paul Virilio. Bei der Abschlußdiskussion resümierte Nancy, daß Europa nicht nur unter politischen oder wirtschaftlichen Kriterien zu betrachten sei. „Wir haben auch auf symbolischer Ebene einiges über Europa zu sagen, und das ist auch eine politische Geste gegenüber der Politik.“ Mein Verdacht: daß das „der Politik“ ziemlich egal ist.

In der Hauptsache nagten die Philosophen dieses Kolloquiums an ihrem Selbst — natürlich, in wohlbegründetem Selbstzweifel, nach all dem, was Philosophen angerichtet haben. Nur keine „Identität“ behaupten, hieß das Programm jetzt, und schon gar keine europäische. Die identitären Diskurse — Nationalismus, Faschismus, Fundamentalismus, Sozialismus — waren die totalitären, sie zielten auf die Vernichtung des „anderen“, und auch die „humanitären Diskurse von Identität und Differenz“ seien nur auf die Vereinnahmung des „anderen“ aus. Es gehe heute vielmehr darum, das andere das andere sein zu lassen, ihm seine „Opazität“ zuzugestehen. Nur keine identitätsstiftenden Figuren aufrichten, gerade die europäischen Intellektuellen hätten da in der Vergangenheit eine fatale Rolle gespielt und spielten sie noch jetzt.

Anders als im letzten Jahr schien nicht einmal die Figur des Dissidenten — also die der Uneinigkeit mit der Macht — zur Symbolfigur der Intellektuellen zu taugen. Statt dessen präsentierte der italienische Philosoph Giorgio Agamben nicht ohne Stolz die politisch viel ohnmächtigere Figur des Flüchtlings: ob nicht Europa vom Status des Heimatlosen aus gedacht werden müsse. Aber es war ein seltsam abstrakter Flüchtling, über den die Geophilosophen da nachdachten — es war der Flüchtling, der „erstmal ein Begriff“ war und dessen Funktion darin zu bestehen schien, einer in Not geratenen Philosophie wieder auf die Beine zu helfen. Nur einmal fragte jemand aus dem Publikum, ob nicht zum Beispiel im Recht — im Völkerrecht wie im nationalen — so etwas wie eine Identität formuliert sei und ob nicht allein darum an einer positiv zu setzenden Identität festzuhalten sei. Denn man komme gar nicht drum herum. In der Tat, antwortete der mit den roten Socken, überall dort, wo Recht gebrochen werde, sei eine Identität berührt und also zu verteidigen. „Auch ein anti-identitärer Diskurs ist sehr gefährlich.“

Aber mit Ausnahme des unseriösen Derrida hielten die Geophilosophen daran fest. Längst schon fragte sich der nicht-philosophische, vielleicht begriffsstutzige, aber doch interessierte Zuhörer, ob Europa nicht voll sei mit lauter bedrohten Identitäten, die dringend tatkräftiger Verteidigung bedürften, vom französischen Camembert, dem per EG-Norm seine Herkunft aus nicht-pasteurisierter Milch untersagt werden soll, über Salman Rushdie, in dessen Fall das Recht auf die Uneinigkeit mit religiösen Gesetzen berührt wird, über das deutsche Asylrecht, das zur Selbstdefinition der Bundesrepublik gehörte, bis zum Krieg gegen Bosnien, dessen „Identität“ gerade eine multikulturelle war, ein Patchwork aus Verschiedenheiten, also eines der idealen Modelle des Poststrukturalismus.

Bei schüchternen, auf Politisches zielenden Nachfragen aus dem Publikum reagierten die Straßburger Philosophen immer wieder mit erstaunlicher Spitzfingrigkeit. Nein, so Philippe Lacoue- Labarthe, das Thema der Demokratie liege vor der hier geführten Debatte. Gerade hatte er von Auschwitz als der Apotheose und Apokalypse eines figuralen Denkens, eines „reinen“ identitären Diskurses gesprochen. Stellt sich da nicht tatsächlich die Frage der Demokratie als einer „unreinen, uneinigen Identität“, die als Figur zu verteidigen wäre?

Die Demokratien sind nicht mehr wehrhaft, sagt Paul Virilio, der nur an einer der vier Diskussionen teilnahm. In vierzig Jahren Abschreckung hätten sie sich den Gedanken an den Krieg abgewöhnt, jetzt sei er wieder möglich, auch als Atomkrieg übrigens, gerade jetzt, wo wir die Angst davor verloren haben.

Längst sei inzwischen auch das Fernsehen zur Waffe geworden, im Golfkrieg wie in Jugoslawien. Die Demokratien hätten sich unterminieren lassen von einem militärisch-informationellen Komplex. Grenzen ließen sich nach dem Fall der Mauer nicht mehr territorial bestimmen, der Fernsehschirm sei heute die eigentliche Grenze. Agambens Figur des Flüchtlings stellte Virilio die des „fernen Nächsten“ gegenüber: Dem Somalier schicken wir eine Spende, solange ihn das Fernsehen als Hungernden zeigt. Wenn er aber hier und jetzt als Asylant an die Tür klopft, machen wir ihn platt.

Als einziger unter den Straßburger Philosophen scheut sich Virilio nicht, „politisch“ zu denken. Seine Ideen holt er aus dem Faktenpool gegenwärtiger Kriegs- und Medientechnologien, aber sie fanden bei seinen ängstlich um ihre Begriffe und die Eigengesetze ihres Denkens bemühten Kollegen keinen Eingang. Sie haben ihre Studierstube von innen verriegelt.

Wahrscheinlich hängt die politische Schwäche der diesjährigen philosophischen Europa-Diskussion in Straßburg mit der Tatsache zusammen, daß Schriftsteller und Philosophen, anders als vor einem Jahr, in getrennten Runden diskutierten. Die Schriftsteller hätten die logischen Skelette der Philosophen mit dem Fleisch ihrer subjektiven Erfahrung füttern können. Die Frage der Identität stellt sich schon ganz anders, wenn der Schriftsteller Patrick Chamoiseau aus Martinique — der vom Prix Goncourt für seinen neuesten Roman „Texaco“ beim Straßburger Treffen erfuhr — über die „Kreolität“ redet, die Mischung europäischer, afrikanischer und asiatischer Einflüsse auf dem Territorium einer längst ausgelöschten amerikanischen Urbevölkerung. Daß diese Identität im Fluß sei, hätten auch die Anhänger anti-imperialistischer Dritt-Welt-Diskurse verkannt, die unter Zuhilfenahme europäischer, meist marxistischer Denkmodelle krampfhaft versucht hätten, das „Eigene“ vor dem Zugriff der Kolonisatoren zu retten.

Ähnlich zwiespältig schilderte die algerische Schriftstellerin Assia Djebar ihr Verhältnis zu Europa — die Sprache der Kolonisatoren sei zum Vehikel ihrer Emanzipation als Frau geworden, dies allerdings erst, nachdem die Kolonisatoren als Herrscher über Algerien abgedankt hätten. Der kapverdische Schriftsteller Mario Fonseca erzählte, wie er der Kolonialmacht Portugal entwich, indem er sich in der Hauptstadt einer anderen Kolonialmacht niederließ. Paris schien ihm der Inbegriff der Freiheit.

„L'extrême Europe“ hieß das Thema der Schriftsteller — Europa von außen. Anders als die Philosophen hatten sie keine Schwierigkeiten damit, in Europa „Figuren“ erblickt zu haben, zum Beispiel eben die der Freiheit oder die der Gerechtigkeit. Ihre Schwierigkeit war eher, daß sie von den Europäern selbst nicht gerade sehr hochgehalten wurden.

„Es fehlen Texte über die persönliche Erfahrung des Krieges“, sagt die kroatische Schriftstellerin Slavenka Drakulic — und trifft sich da mit der Forderung Derridas, der „direkt über den Golfkrieg sprechen“ wollte, allerdings in einer ganz anderen Diskussion. So zeigte sich das Fehlen der Schriftsteller bei den Diskussionen der Philosophen als ein Fehler. Die Philosophie muß wohl ab und zu auf den Körper zurückgestoßen werden, sonst entsteigt sie aus irgendeiner Selbstgesetzlichkeit heraus in eine Art Sphärenharmonie auf allerhöchstem Abstraktionsniveau. Auch Philosophen aber sollten merken, wenn es weh tut.