Überleben durch Unsichtbarmachen

■ Ein Roman aus der Tschechoslowakei zur Zeit der deutschen Besatzung

Die Groteske beginnt mit einer wahren Geschichte. Reinhard Heydrich, Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, hat gerade das Prager Rudolfinum zum „Haus der deutschen Kunst“ geweiht, als er auf dessen Dach die Statue des Komponisten Mendelssohn-Bartholdy entdeckt. Er gibt Befehl, sie augenblicklich zu entfernen. Doch die beiden tschechischen Handwerker, die den Auftrag ausführen sollen, stehen ratlos da. Welche der vielen Statuen auf dem Rudolfinum ist die des Juden? Der sudetendeutsche Hausverwalter, ein SS-Anwärter, nimmt den Rassenkundeunterricht zur Hilfe. „Wer die größte Nase hat, ist der Jude“, bestimmt er. Erst als die Statue schon schwankt, bemerkt er, daß die Schlinge um den Hals des einzigen Komponisten gelegt ist, den er kennt – Richard Wagner.

Jiri Weil hat die absurde Episode aufgeschrieben und darum herum einen ganzen Roman über das besetzte Prag und die Judenverfolgung in Böhmen und Mähren erzählt. „Mendelssohn auf dem Dach“ heißt das Buch, das der Rowohlt Verlag in einer Übersetzung von Eckhard Thiele in diesem Herbst herausgegeben hat. Vor über dreißig Jahren ist es schon einmal erschienen, posthum 1961, in einem kleinen Prager Dissidentenverlag und in einer Auflage von nur wenigen hundert Exemplaren.

Der Autor ist in Deutschland heute fast unbekannt. Sein 1937 geschriebener Roman „Moskau- Grenze“ erschien auf deutsch erst 1992, die 1949 verfaßte Autobiographie „Leben mit dem Stern“ 1974. In den dreißiger Jahren hingegen gehörte Weil zu den bekanntesten Schriftstellern Mitteleuropas. In seiner Jugend war er Kommunist, Mitglied der tschechischen Sektion der Komintern, wurde aber, weil mehr Patriot als Internationalist, nach einem Schauprozeß für kurze Zeit in den Gulag deportiert. Nach dem Krieg und im kommunistischen Prag stand der Schriftsteller und promovierte Kunstwissenschaftler zeitweilig unter Hausarrest - eine bis zu seinem Tod 1959 verordnete Isolation, die Weil nicht fremd war. Denn als lebendiger Toter hatte er auch die deutsche Okkupation überstanden. Er wäre als Jude nach Theresienstadt oder Auschwitz deportiert worden, wenn er die Häscher 1943 nicht durch einen fingierten Selbstmord getäuscht hätte. Und er wäre vielleicht als Untergetauchter enttarnt worden, wenn es nicht die Paßfälscherorganisation „Komet“ gegeben hätte, die Juden zu tschechischen Ariern machte. Auch der Mut dieser Fälscher kommt in diesem Buch vor.

Nicht zu sein, was er schien, hat also Jiri Weil das Leben gerettet. Auch der Mendelssohn auf dem Dach ist geblieben – freilich für Heydrich unsichtbar. Nachdem die Statue nach vielen vergeblichen Identifizierungsversuchen endlich erkannt war, legten die Handwerker sie um, ließen sie aber auf der Balustrade liegen: damit, „wenn der ganze Spuk vorbei ist, unsere Leute sie wieder aufstellen können“.

Diese Statue und das Schicksal der Menschen, die mit ihr zu tun hatten, sind das Thema des Romans. Weil beschreibt, mit welch gespenstischer Selbsttäuschung die jüdischen und nichtjüdischen Tschechen versuchten, die Besetzung zu überleben, immer in der Hoffnung, nur noch dieses eine Mal sich mit den Nazis arrangieren zu müssen. Er beschreibt auchden aussichtslosen Kampf derjenigen, die sich stark genug fühlten, „dem Spuk eine Ende zu bereiten“. Dies alles in realistischer Sprache: „Du mitkommen zum Haus der deutschen Kunst, auf Dach steigen und Judenstatue suchen“, befiehlt der tschechische Wachmann dem tschechischen Juden. Wie könnte man besser zeigen, wie Einheimische zu Ausländern gemacht werden?

Zu den eindrücklichsten und makabersten Schilderungen gehören die Geschichten um die „Treuhandstelle“ und das „Zentrale Jüdische Museum“ in Prag. Eingerichtet 1941 auf Anweisung von Adolf Eichmanns Behörde, der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“, arbeiteten hier jüdische Museumsfachleute und rabbinische Gelehrte an einer Ausstellung, die der arischen Nachwelt das Kultusleben einer „untergegangenen Rasse“ dokumentieren sollte. Eine zentrale Figur in Weils Buch ist der Leiter dieses Museums, der strenggläubige Gelehrte Dr. Rabinowitsch (im Unterschied zu den Namen der Täter sind die Namen der Opfer verschlüsselt). Zu Anfang des Romans erkennt der Gelehrte Mendelssohn-Bartholdy nicht auf dem Dach, weil dieser ja ein getaufter Jude und damit ein Abtrünniger war. Und erst am Ende des Buches, auf dem Weg nach Auschwitz im Sommer 1944, begreift Rabinowitsch, daß Gott ihn nicht bestraft, weil er das heilige Schofar-Horn an einem profanen Tag und für einen neugierigen Ungläubigen - nämlich Albert Speer - geblasen hat. Er muß vielmehr in den Tod gehen, weil die Nazis den Tod aller Juden geplant und angeordnet haben.

Es gibt Romane, die verlangen ein Nachwort. Dies ist so einer. Denn Weils Buch ist weit mehr als nur, wie auf dem Klappentext zu lesen, die Beschreibung der erniedrigenden Absurditäten des täglichen Lebens im besetzten Prag und im Konzentrationslager Theresienstadt. Es ist das einzige existierende literarische Dokument über die – unter jüdischer Verwaltung arbeitende – „Treuhandstelle“ und über ein Museum, das sich von allen anderen Museen der Welt unterscheidet. Denn es wurde von Menschen geschaffen, die bei dieser Arbeit ums Leben kamen. Um Weils Schilderungen wirklich zu verstehen, empfiehlt es sich daher unbedingt, auch den von der Alten Synagoge in Essen herausgegebenen Band „Das Jüdische Museum in Prag. Von schönen Gegenständen und ihren Besitzern“ (J.H.W. Dietz Nachf. 1991) zur Hand zu haben. Anita Kugler

Jiri Weil: „Mendelssohn auf dem Dach“, Rowohlt Verlag 1992,

39,80DM