Ein Vorschlag zur Güte

■ Hans Küngs „Das Judentum. Die religiöse Situation der Zeit“

Im Verlauf des letzten Jahres, so scheint es, hat sich das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden schlagartig verändert: Den Zerstörungen von Friedhöfen und den antisemitischen Lapsus linguae stehen ein Boom von Judaica auf der letzten Buchmesse und ein gesteigertes Interesse an untergegangenen jüdischen Lebenswelten gegenüber. Speziell das Yiddischland in Osteuropa, pittoreske Szenerien mit Klezmermusikern, chassidischer Naturmystik und dem krausen, folkloristischen Witz eines Scholem Aleichem erleben eine eigentümliche Renaissance.

Auch wenn die Nostalgie für das Schtetl-Leben nicht einfach die philosemitische Kehrseite des Hasses ist, so kann man doch eine Gemeinsamkeit beider Gemütsregungen ausmachen: Nostalgiker und Vandalen stammen aus einer Generation, die den Krieg nicht mehr selbst erlebt hat, beide wurden von wohlmeinenden „68ern“ erzogen, die in dem Bemühen, den Holocaust gegenwärtig zu halten, ihren erschrockenen Zöglingen häufig kommentarlos den Bruch zwischen Photos von jüdischen Kindern der Weimarer Republik mit den Aufnahmen der Alliierten bei der Befreiung der Konzentrationslager zumuteten. Gegen diese verordnete Ersatz-Erfahrung, gegen das sakrale, dumpfe, schuldbewußte Mahnen, Gedenken, das vom Judentum nichts weiß, nichts berichtet von der Zeit zwischen den beiden Photos, dagegen wehren sie sich beide. Die einen, indem sie brüskieren, bilderstürmen und zerstören; die anderen, indem sie das Verlorene romantisieren.

Beide wissen nach wie vor relativ wenig von jüdischer Geschichte und Religion; kaum etwas von den Zerreißproben der jüdischen Moderne. Beide leben mit einem mythologischen Bild vom Juden: Die Vandalen phantasieren noch immer von der allmächtigen jüdischen Weltverschwörung. Die Nostalgiker denken an Chagalls ohnmächtig gekreuzigten Chassiden, an Luftmenschen, Schlemihls und Ghettorosen. Beide können noch nicht mit lebenden Juden streiten.

Hans Küngs großes Buch „Das Judentum – Die religiöse Situation der Zeit“ wirkt da wie ein „Vorschlag zur Güte“, eine differenzierte, kritische, brüderliche Auseinandersetzung mit jüdischer (Religions-)Geschichte, die ohne Mythen auskommt und höchst aufregende Debatten entfesseln könnte.

Küng, der 1928 in Sursee in der Schweiz geboren wurde und seit 1980 fakultätsunabhängiger Professor für ökumenische Theologie an der Universität Tübingen ist, hatte schon in „Projekt Weltethos“ (1990) behauptet, ohne einen streitbaren, aber letztlich auf Koexistenz zielenden Erfahrungsaustausch zwischen den Religionen könne es keinen Weltfrieden geben. Sein Buch über das Judentum ist das erste einer Trilogie, die sich mit den drei prophetischen Religionen nahöstlichen Ursprungs beschäftigt.

„Wie in einem Brennglas“, so schreibt Küng, „spiegeln sich im Judentum alle religiösen Probleme unserer Zeit an der Schwelle zum neuen Jahrtausend“. Daß das Buch auch für Atheisten interessant ist, zeigt schon ein flüchtiger Blick auf die behandelten Themen: die Figur Abrahams, Moses' und Jesus' bei Juden, Christen und Muslimen; die Durchsetzung des Monotheismus; der Universalismus der hebräischen Bibel; die Entstehung der jüdischen Buchreligion; die Frage, warum es keine jüdische Reformation gab; Spinoza und das moderne Gottesverständnis; „Holocaust-Theologie“ und die Identitätsfluktuation der Postmoderne, bis hin zu Historikerstreit, Golfkrieg und der Zukunftsperspektive ökumenischer Anstrengungen.

All dies wird einem keineswegs wie Kraut und Rüben hingeworfen. Vielmehr folgt das Buch einer vertikalen und horizontalen Systematik, die an den gestrengen Aufbau einer Bachschen Fuge erinnert. Das immer wiederkehrende Thema sind die Konstanten des Judentums: „Was immer eine historische, literarische oder soziologische Kritik kritisieren, interpretieren und reduzieren mag“, so schreibt Küng, „von den maßgeblichen und geschichtsmächtig gewordenen israelitischen Glaubensurkunden her sind der zentrale Glaubensinhalt der Gott Jahwe und das eine Volk Israel. Diese ,Bundesformel‘ bezeichnet die Mitte des Alten Testaments [...] Nicht um die innersten Geheimnisse der Gottheit kreisen die biblischen Schriften, sondern um die Geschichte dieses Volkes mit seinem Gott.“ Wie zentral die Geschichtsschreibung für Küngs Interpretation der jüdischen Religion ist, erfährt man erst im Laufe des Buches: Indem Geschichtsschreibung und Religion zusammenfallen, konstituiert sich das jüdische Volk überhaupt nur durch die Erinnerung; von ihrer Interpretation hängt die Identität in der Gegenwart ab.

Die Variationen, die das Thema des Bundes im Laufe der Jahrtausende erfahren hat, nennt Küng „Paradigmen“, geschichtlich-kulturelle Konstellationen von Überzeugungen, Werten etc., die von den Mitgliedern einer Gemeinschaft geteilt werden. Durch diesen Kunstgriff gelingt es ihm zu zeigen, wie sich Glaubenssätze aus dem babylonischen Exil ins Brooklyn des Jahres 1992 hinüberretten konnten.

Da ist zunächst das „Stämme- Paradigma der vorstaatlichen Zeit“, verbunden mit der Figur Moses, das nicht viel mehr enthält als die Etablierung des Bundes, die Offenbarung, die Entstehung der Gemeinschaft des Volkes mit Gott. Nach der Landnahme in Palästina und der Begegnung mit feindlichen Nachbarn erwächst aus der Notwendigkeit der Verteidigung und Konsolidierung das Davidische Staatsparadigma, das sich bis in den modernen Zionismus hinein fortsetzt.

Unter David entsteht auch das prophetische Judentum, das Küngs ganze Sympathie hat: Universalismus, Gerechtigkeit, Frieden, Liebe und eine stets kritische Distanz zum Establishment sind die Werte, die von den frei umherschweifenden Propheten vertreten wurden. Eine von Küngs zentralen Vermutungen ist, daß dem Judentum diese Tradition nach der Ära David verlorengegangen ist, daß mit der Etablierung einer Theokratie in der Zeit nach dem ersten Exil um 700 v.d.Z. Legalismus, Klerikalismus und Ritualismus ins Judentum einzogen, die sich bis in die heutige Orthodoxie hinein gehalten haben.

Die Zerstörung des Zweiten Tempels, die Zerstreuung des Volkes, die Diaspora konnten die Juden nur deshalb als ein Volk überstehen, weil die Pharisäer den Tempelgottesdienst durch das Studium der Thora ersetzt hatten, was zur Not im Haus oder in einer kleinen Synagoge mit wenigen Versprengten stattfinden konnte. Die Schriftgelehrten, die Rabbiner, entwickelten den Talmud, die mündliche Überlieferung der Gesetzestexte und deren schriftlichen Kommentar, und wurden langsam zu einer eigenen Kaste. Wieder problematisiert Küng vorsichtig die Fixierung auf das Gesetz, die Ausdörrung der theologischen Interpretation und der ethischen Exegese: „Nicht um ,Ortho-doxie‘, um rechte Lehre geht es diesem orthodoxen Judentum primär; Dogmen, Katechismen, Glaubensprüfungen, Inquisition kennt es (im Gegensatz zum Christentum) kaum, weder damals noch heute [...] Nein, es geht in erster Linie um ,Ortho-Praxie‘, ,rechtes Leben‘ unter der Thora [...] Jüdische Identität konkretisiert sich weniger an Glaubensinhalten als am praktischen Glaubensvollzug.“

Klar, daß diese Haltung dem Jahrhundert der Aufklärung ein Stein des Anstoßes war. Ein bißchen zu kurz kommt bei Küng die ungeheuer einflußreiche Kritik Immanuel Kants, für den die blinde Befolgung göttlicher Gesetze eine Verfälschung des Glaubens war, der in Wahrheit nur dem autonom urteilenden, mit praktischer Vernunft operierenden Individuum zugänglich sei. Dabei führt Kants Kritik direkt zu Küngs eigenem Hader mit dem orthodoxen Judentum: „Weil ihnen ein konstitutives moralisches Ideal analog zu Jesus fehlt, leitet das Judentum seine Gläubigen nicht zum Gottesdienst durch moralische Pflichten, sondern fordert von ihnen eine ermüdende Anzahl ritueller und liturgischer Handlungen“ - einer der Kernsätze der Kantschen Kritik.

Das moderne Paradigma, von Küng auch „Assimilationsparadigma“ genannt, fußt wesentlich genau darauf. „Ein Jude zu Hause, ein Mensch auf der Straße“ ist die Kurzformel, auf die viele von Kant beeinflußte moderne Theoretiker des Judentums diese Haltung brachten. Moses Mendelssohn und besonders Martin Buber suchten nach ethischen Imperativen, die sich aus dem Bund mit Gott ergaben und die sich gleichzeitig mit dem neuzeitlichen Universalimus, den Wissenschaften und dem Staatsbürgertum verbinden ließen.

Nach jedem Abschnitt fragt Küng, wie Christen und Moslems das jeweils behandelte Problem bewältigt haben, und führt so schon in der Form seines Buches vor, was er für die Option der Zukunft hält: einen respektvollen, Ähnlichkeiten und Differenzen sachlich, aber engagiert registrierenden Dialog der Religionen. Im Gegensatz zu Lessings „Ringparabel“ will Küng die Differenzen aber keineswegs in einen christlich geprägten Universalismus auflösen.

Küngs Bravourstück schließlich ist die Diskussion der heiklen Frage der jüdischen Theologie, der jüdischen Identität überhaupt, im Nachhall des Holocaust. Nach zwei Jahrzehnten des Schweigens begann die jüdische Gemeinde Amerikas erst in den sechziger Jahren - nach dem Eichmann-Prozeß, nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 und auf der Höhe der Bürgerrechtsbewegung -, sich mit Auschwitz öffentlich theologisch auseinanderzusetzen. Dabei zeigte sich schnell das erschreckende Phänomen, daß für viele assimilierte, nicht-gläubige Juden der Holocaust die letzte Verbindung mit dem Judentum darstellte, eine Art „neuer Sinai“, eine „negative Offenbarung“. Mit dem existentialistischen Theologen Emil Fackenheim ist Küng der Auffassung, daß diese „Holocaust- Fixierung“ den Nazis posthum einen Sieg verschafft. Küng kritisiert auch den „Israelismus“, der mit dieser Fixierung oft Hand in Hand geht: ein Zionismus als Pseudoreligion, der keine Kritik an Israel zuläßt und dabei den Holocaust mahnend zur Legitimation der Existenzdes Staates aufruft.

„Der Holocaust darf nicht zur säkularen Ersatz-Religion, die Holocaust-Theologie nicht zur Ersatz- Theologie, der Schoah-Tag nicht zur Ersatz-Liturgie und die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem nicht zum weltlichen Ersatz- Tempel gemacht werden.“ Gleichzeitig zeigt Küng, daß auch eine Geschichtsschreibung irrt, die den Holocaust einbetten will in eine lange Reihe jüdischer Katastrophen, von Nebuchadnezar bis zur Zerstörung des Zweiten Tempels oder den Chmielnitzki-Pogromen in Polen. Diese „lachrymose“ Variante jüdischer Geschichtsdarstellung wird von vielen jüngeren jüdischen Historikern heftig kritisiert,

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die darauf hinweisen, daß es auch Zeiten gegeben hat, in denen Juden politische Macht besaßen und nicht Opfer waren. Küng kennt alle diese Historiker, er weiß um die jüngsten Auseinandersetzungen, um die Organisation „New Jewish Agenda“, die gegen das „Politikmachen mit dem Holocaust und jüdischen Chauvinismus“ agierte und die inzwischen eingegangen ist. Küng hat sich auch intensiv mit den anderen religiösen Verarbeitungen des Holocaust beschäftigt, mit den Differenzen zwischen Reformjudentum und Konservativen, zwischen Rekonstruktionisten und Orthodoxie; mit den Optionen für Israel, mit den Möglichkeiten der Christen, sich zu diesem Konflikt zu verhalten, und auch mit dem Historikerstreit. Küng schreibt: „Weder die moralische Einebnung und historische Relativierung, noch die mystifizierende Überhöhung und unhistorische Verabsolutierung werden dieser wahrhaft singulären Katastrophe gerecht. Sie bedeutet das Ende zwar nicht des Judentums, aber eines ganzen jüdischen Paradigmas, das der Assimilation.“

Küngs Botschaft ist klar und einfach präsentiert, aber komplex und vielen jüngeren Zeitgenossen weit voraus: In der Tatsache, daß jüdische Religion an sich schon Geschichtsschreibung ist und daß sich diese eher auf die Handlungen des Menschen als auf eine geheimnisvolle Gottheit bezieht, sieht er die Chance, den Trümmern der Vergangenheit Implikationen für gegenwärtiges Handeln zu entlocken. In der bloßen Konzentration auf den Buchstaben und auf Verhaltenskodizes sieht er andererseits die Gefahr der Erstarrung, die dem Ansturm der Moderne nicht standhalten kann und offensichtlich für viele unter der Erschütterung durch den Holocaust auch tatsächlich zusammengebrochen ist.

So bewegt Küng sich jenseits des Antisemitismus wie auch jenseits jener sakralen Musealisierungstendenz, die sich so oft speziell dem osteuropäischen Chassidismus gegenüber bemerkbar macht.

Seinem Plädoyer für ein postmodernes Gottesverständnis kann man folgen oder nicht. Dem Votum für eine ethische Haltung jenseits von Zynismus und Nostalgie kann man sich wohl kaum entziehen. Mariam Niroumand

Hans Küng: „Das Judentum. Die religiöse Situation der Zeit“. Piper Verlag, München 1992. 905 Seiten, geb., 48DM