„Wir sind Mischlinge zweier Kulturen“

Gesichter der Großstadt: Yan Shi und Shicha Liu aus China leben seit 1981 in Berlin/ Liu bekam Asyl als Aktivist der Demokratiebewegung/ Seine Heimatstadt beherbergte 50.000 Deutsche während der Nazizeit  ■ Von Ute Scheub

Schmargendorf. Shicha Liu aus der Volksrepublik China gehört zu einem auserlesenen Kreis. Er rechnet nämlich zu jenen wenigen Menschen, deren Asylantrag wegen „Nachfluchtgründen“, sprich politischen Aktivitäten in der Bundesrepublik, anerkannt wurde. „Ich hatte sehr viel Glück“, weiß der 31jährige Assistent der Elektrotechnik. Glück ist in diesem Falle leider nur ein Synonym für eine längst abgeschaffte Selbstverständlichkeit: daß jemand, den die Botschaft seines Heimatlandes als „extrem feindlich“ einstuft, auch tatsächlich als politisch Verfolgter eingestuft wird.

Auch deswegen findet Shicha Liu, der zusammen mit seiner 30jährigen Frau Yan Shi Demonstrationen und andere Unterstützungsaktionen für die chinesische Demokratiebewegung von 1989 organisierte, die gegenwärtige Asyldebatte ziemlich gruselig: „Die Deutschen begreifen das Asyl anscheinend als eine Art Wohlfahrtstätigkeit, die man gnädig gewährt. Dabei müßte es zu den selbstverständlichen humanistischen Grundsätzen jeder Demokratie gehören.“ Gerade die Deutschen hätten das Asylrecht selbst massenhaft in Anspruch genommen. „In der Zeit des Nationalsozialismus war Deutschland der größte Exporteur von Flüchtlingen“, sagt er mit kleinem sarkastischen Anflug in der Stimme. „Allein in meiner Heimatstadt Shanghai lebten damals rund 50.000 Deutsche vorwiegend jüdischer Abstammung.“

Wenn man nur den Stimmen der beiden lauscht, könnte man meinen, sie seien selbst Deutsche. Akzentfrei und ohne Verbiegung der Grammatik, also besser als jeder Berliner, wissen sie die Sätze aneinanderzureihen. Und das nach gerade mal elf Jahren Westberlin. 1981 nämlich lernten sie sich hier kennen, als sie beide im Rahmen eines deutsch-chinesischen Austauschprogramms an der Technischen Universität Werkstoffwissenschaften bzw. Elektrotechnik zu studieren begannen. Obwohl sie schon vorher in China gut ein Jahr Sprachunterricht gehabt hätten, habe er am Anfang „nicht mal das Wort Bahnhof verstanden“, lacht Liu.

Der Beginn sei schwierig gewesen, befindet auch Yan Shi. Als Frau und als Ausländerin sei sie für ihre deutschen Kommilitonen im Männerfach Werkstoffwissenschaften „eine doppelte Exotin“ gewesen. Sie hätten sie „nicht für voll genommen“, und „ich hatte viel Mühe zu beweisen, daß ich etwas kann.“ Erst nach drei, vier Semestern habe sie mehr Kontakt zu Deutschen entwickeln können, vor allem zu Frauen.

Shicha Liu erging es ähnlich: „Ich wußte immer nicht, was ich mit meinen deutschen Kommilitonen reden sollte. Die sprachen über Autos, davon verstand ich gar nichts, und über Rockmusik, dabei waren mir selbst die Beatles fremd.“ In China hätten sie einen Plattenspieler nur von ferne gesehen. „Der kulturelle Unterschied zwischen China und der Bundesrepublik war damals viel größer als heute. In den Städten werden heutzutage schon Michael Jackson und Madonna auf chinesisch nachgesungen.“

Umgekehrt fühlen sich auch die beiden inzwischen wie „Mischlinge zweier Kulturen“. Am Anfang hätten sie sich an alle deutschen Sitten angepaßt und dadurch, ohne es recht zu merken, sehr viel übernommen, sagt Yan Shi. „Jetzt habe ich manchmal sogar schon Kommunikationsprobleme mit Chinesen“, beobachtet er: „Die Denkweisen sind nunmal sehr verschieden.“

Inwiefern? Hier herrsche die industrielle und rationale Lebensart vor, meint Shicha Liu. „Die Menschen, selbst die Grünen und Alternativen, gehen in ihrem Denken automatisch von einem hohen Organisationsgrad der Gesellschaft aus.“ Die chinesische Lebensweise hingegen sei viel „ineffektiver, aber auch lässiger und lockerer, willkürlicher und spontaner“. Beim Streit um irgendeinen Begriff oder Sachverhalt „würde dort niemand im Lexikon nachschauen, so wie das die Deutschen tun. Mittlerweile haben wir selbst ein Lexikon“, lacht Yan Shi.

Vor sechs Jahren haben sie ihr Heimatland zuletzt gesehen. 1986 war überhaupt ein ereignisreiches Jahr für sie: Sie heirateten, sie flogen nach Hause, sie zogen in ihre Schmargendorfer Wohnung, sie begannen nach erfolgreichem Abschluß ihres Studiums eine neue Arbeit als Uni-Assistenten. Damals jedoch noch mit der festen Absicht, nach Ablauf dieses fünfjährigen Zeitvertrages nach China zurückzukehren.

Doch die Ereignisse von 1989 veränderten alles. Shicha Liu wurde zum Aktivisten im „Verband der chinesischen Studenten und Wissenschaftler in der Bundesrepublik“ und der „Föderation für ein demokratisches China“, die nach dem Massaker auf dem Tian An Men von geflüchteten Studenten in Paris gegründet worden war. Für die chinesische Botschaft wurde er spätestens dann zur Persona ingrata, als er mit dem Senat über den Aufenthaltsstatus seiner bedrohten Landsleute verhandelte.

Nun macht er sich allerdings Sorgen, daß die damals getroffene Regelung Ende dieses Jahres zurückgenommen wird, da nun auch der deutsche Außenminister mit seinem Besuch in Peking „Normalität“ signalisiert hat. „In Shanghai gab es 50.000 Deutsche, in Deutschland leben gerade mal 3.000 bis 4.000 Chinesen, und für die fordern wir nicht mal eine endgültige Regelung“, sagt Shicha Liu ein bißchen bitter.

Doch das ist nicht das einzige, was ihnen das Leben hier schwerer macht. Immer öfter spüren sie „Druck“ und „ablehnende Blicke“. Mit dem neuen Ausländerhaß konfrontiert, überlegen sie ernsthaft, ob sie wieder weggehen. Nein, nach China können sie nicht zurück, aber vielleicht in ein anderes europäisches Land oder gar in die Dritte Welt, „als Entwicklungshelfer“. „Unsere erste Heimat haben wir verloren“, sagt Shicha Liu, „und unsere zweite wird ungemütlich.“