Zuflucht am Ende eines blutigen Märchens

■ „Asyl in der Kirche“: Schutz vor der jugoslawischen Wirklichkeit

„Unsere serbischen Nachbarn, und bis gestern große Freunde, haben uns tags getröstet, daß alles gut werde, wenn wir klug sind, und nachts haben sie uns und unsere Häuser beschossen. Wir waren gezwungen, ,freiwillig‘ alles den Serben zu überlassen. Jetzt, in Berlin, erscheinen uns diese Ereignisse wie ein blutiges Märchen.“

Die Berliner Zusammenkunft der bosnischen Flüchtlinge beginnt jeden Freitag um die gleiche Zeit, um 15 Uhr, in der Asylberatung am Mehringdamm. „Asyl in der Kirche“, das ist der Zufluchtsort, den die Menschen ohne eigenes Heim in Berlin gefunden haben, auf der Flucht vor Schlachtermessern und Kugeln, die nunmehr die bosnisch-herzegowinische Wirklichkeit bestimmen. Die Geschichte dieser Menschen ist meistens die gleiche – die verlorene Vergangenheit und eine Zukunft, die auf unbestimmte Zeit verschoben wurde: ohne Antwort auf die Frage, wohin und wie weiter.

Hana Kahrimanovic ist 23 Jahre alt. Sie hat einen dreijährigen Sohn, Fadil, und zehn Familienmitglieder. Auch den 45jährigen Vater Avdija Kahrimanovic. Und das ist – wie sie selbst sagt – alles, was sie hier in Berlin habe. Alles andere, das große Familienhaus, Äcker, Felder, ihre Arbeit, viele Freunde, hat sie verlassen, um ihr Leben zu retten.

„Ich bin aus Kozluk bei Zvornik. Das ist ein kleiner Ort in Mittelbosnien mit ungefähr 5.000 moslemischen und 15 serbischen Häusern. Heute gibt es dort gar keinen Moslem mehr. Auf der Landkarte existiert mein Geburtsort zwar noch, aber er ist jetzt ein serbisches Städtchen mit 14.000 Serben.“ Während sie ihre Lebensgeschichte erzählt, wird schmerzlich bewußt, daß Hana schon wie eine alte Frau wirkt, obgleich sie erst 23 ist. Auf ihrem Gesicht kann man keinen Haß bemerken, in ihrer Stimme keinen Zorn.

„Ich habe keine Kraft für solche Gefühle“, so auf diese Bemerkung Hans. „Nach mehr als drei Monaten Reise ins Unbekannte, mit einem dreijährigen Kind auf dem Arm, ohne Nahrungsmittel, oft auch ohne Wasser, bleiben einem Menschen nicht so viele Gefühle. Wir wurden einfach eines Morgens aus unseren Häusern gejagt. Am 26. Juni schoben sie uns in 16 Busse, und wir fuhren nach Serbien. Wir fuhren zur ungarischen Grenze. Dort befindet sich ein Lager. Einige Gruppen haben sie nach Österreich geschickt, einige nach Ungarn. Wie kann man beschreiben, was wir empfanden? Kurz gesagt: Blut, Schweiß und Tränen. Wir schliefen auf der Erde, in den Zügen, in Zelten. Fünf Tage schliefen wir an der tschechischen Grenze in einem Bordell. Diese Frauen dort waren die ersten, die sich uns gegenüber so benahmen, als wären wir Menschen und keine Bestien. Leider kenne ich weder ihre Namen noch den Namen jenes Ortes.“

Und dann geschieht etwas ganz Unerwartetes im Leben von Hana Kahrimanovic. Die Reise nach Berlin: ein neues Leben in einem Haus mit großem Garten, in den man hinausgehen kann ohne Angst um sein Leben. Es ist wie ein Traum, den sie und ihre Schwester tagelang geträumt haben. „Die Berliner ermöglichen uns sogar, daß die ganze Familie zusammen ist. Wunderbar, das ist das richtige Wort für das Leben, das wir in Berlin leben. Aber, mein Sohn ist krank geworden. Er ist gesund und doch krank. Er ißt nichts, trinkt nichts. Der Arzt hat gesagt, das ist vor Angst. ,Keine Sorge, hier wird alles besser, auch der Appetit.‘ Aber ich frage mich, was wird mit unserer Zukunft, mit Bosnien? Wie können wir all das, was wir bekommen haben, Hanne Garrer und den anderen aus der Asylberatung zurückgeben? Die Berliner haben ein großes Herz, so groß, daß wir alle Platz darin gefunden haben. Ich weiß nicht, ob wir das je zurückgeben können...“

Das ist die Frage, die auch die anderen bosnischen Flüchtlinge bewegt. Aber nicht nur diese Frage, sondern auch noch eine andere: Wie lange wird die Stadt Berlin all das finanziell aushalten? Senda Marjanovic

Die Autorin ist bosnische Journalistin und lebt als Flüchtling in Berlin.