Den Rassismus aus den Köpfen holen

Nur mit einer Dekolonisation unseres Bewußtseins durch eine antirassistische und interkulturelle Erziehung können wir die Vielfalt der Menschen leben/ Thesen  ■ Von Prof. Dr. Helmut Essinger

Die Bundesrepublik Deutschland ist zu einem Einwanderungsland geworden. Daran ändern auch die gegenwärtig im Bundestag geführten Debatten um den Artikel 16 des Grundgesetzes nichts; daran ändert auch nichts, daß die Senatsschulverwaltung für Berlin das an 17 Grundschulen erprobte Modell zweisprachiger Alphabetisierung und Erziehung mit dem Schuljahr 1992/93 auslaufen lassen und somit nicht in das Regelangebot der Schulen aufnehmen will.

Will die Pädagogik den Heranwachsenden in ihrer Gegenwart und Umwelt zur Orientierung verhelfen, wird sie die Bedingungen der multiethnischen und -kulturellen Gesellschaft in ihre Reflexion einbeziehen müssen. Allerdings wäre es verfehlt, wollte man in der gegenwärtigen, durch brutalen Rassismus bestimmten Situation von der Pädagogik eine rasche Lösung aller Probleme verlangen. Damit würde man PädagogInnen und LehrerInnen eine Last aufbürden, die sie nicht zu tragen vermögen.

Erziehung vollzieht sich immer in längerfristigen Perioden: In dem Geist der Erziehung, der unseren Eltern und Großeltern vermittelt wurde, leben wir heute, in dem Geist, den wir heute weitergeben, werden einmal unsere Kinder und Enkel leben.

Es ist gegenwärtig der Geist der Kolonisation, nämlich das Lernen dessen, daß Europa und Nordamerika gemeinsam das Zentrum der Welt sind. Unser atlantischer Eurozentrismus stellt den Maßstab zur Bewertung der Welt dar. Das wird beispielsweise deutlich in unserem Verhältnis zu anderen Kulturen: An oberster Stelle steht immer unsere Kultur; die anderen Kulturen sind untergeordnet.

Und so ist als erstes eine Dekolonisation unseres Bewußtseins und Denkens erforderlich. An die Stelle von Kulturhierarchien müssen wir die Gleichwertigkeit der Kulturen setzen. Wir müssen lernen, daß die anderen Kulturen unter anderen ökonomischen, sozialen, geographischen Bedingungen entstanden sind, sich entwickelten oder veränderten, ohne sie dabei als minderwertig zu klassifizieren: Uns Fremdes ist anders, jedoch nicht minderwertig.

Die Folgerung daraus ist die Forderung einer interkulturellen Erziehung, die die Entschränkung unserer Erziehungsprinzipien aus einer monokulturellen, im atlantischen Eurozentrismus verhafteten Engführung hin zur kulturellen Vielfalt und Wertschätzung des anderen beinhaltet. Wir stehen hier vor einer Umorientierung unserer Erziehungsmaximen. Unsere koloniale und imperialistische europäische Vergangenheit mit ihrer Ausbeutung von anderen Kontinenten und Menschen wird in die Reflexion einbezogen werden müssen, um daraus die politischen Konsequenzen für die Lernperspektiven zu ziehen.

Das meint, daß eine politische Erziehung gefordert wird, die sich nicht hinter einer angeblich wissenschaftlichen Neutralität verschanzt und damit den rassistischen und kolonialen Strukturen in unserer Gesellschaft ein Alibi verschafft.

Großeltern, die rassistisch erzogen wurden, haben Kinder erzogen und die erziehen wieder Kinder...; so läßt sich etwas holzschnittartig unsere Erziehungstradition formulieren. Und wer aufmerksam und ohne Scheuklappen die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre verfolgt hat, den/die überrascht dieser brutale Ausbruch des Rassismus heute nicht. Zwar wurde von den Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg eine Entnazifizierung propagiert und auch vordergründig durchgeführt, doch hatten sie keine umfassende Überwindung des Rassismus zur Folge, weder in gesellschaftlichen Strukturen noch im persönlichen Bewußtsein: Rassismus wurde im Erziehungsprozeß weiter „vererbt“.

Die Sprache vieler PolitikerInnen und auch zahlreicher Medien steht dem rassistischen Vokabular unserer Vergangenheit in nichts nach. Nicht nur, daß das Wort „Asylant“ ein kill-Wort ist, das den Flüchtling der Meute der ihn Hetzenden preisgibt; auch wird schon lange genug in einer Sprache über die Flüchtlinge gesprochen, die nicht Ausdruck des Verständnisses ihrer individuellen Not ist, sondern die Bedrohung signalisiert: Die „Überfremdung“, „Überschwemmung“, bzw. „Überflutung durch Ausländer“ wirken bedrohlich, dagegen muß man sich schützen.

Und ich befürchte, daß eine gründliche Analyse der Sprache, die seit Monaten in der Diskussion um das Asylrecht gebraucht wird, zu dem Ergebnis kommen könnte, daß diese fürchterliche Debatte im Bundestag einer der Funken war, die das Pulverfaß Rassismus zur Explosion brachten. Was in den Parlamenten diskutiert wird – zum Beispiel die schnelle Abschiebung von sogenannten „Wirtschaftsasylanten“ – wird in Rostock und sonstwo auf der Straße exekutiert.

In dieser Situation ist eine antirassistische Erziehung vonnöten, die die enthumanisierenden Formen des latenten Rassismus dekuvriert, indem sie beispielsweise die rassistische Sprache unserer Gesellschaft zum Skandalon macht und die allen Formen des verdeckten wie offenen Rassismus widersteht.

Diese antirassistische Erziehung verfolgt ein visionäres Ziel: Es ist das Bild einer Gesellschaft, in der der Mensch als Teil der Gattung Mensch – und nichts als das – leben kann; wo er nicht als Schwarzer, Weißer, Jude oder Araber, Moslem oder Christ, Deutscher oder Türke etc. angesprochen wird, sondern als Mensch unter der Vielfalt und in der Vielfalt anderer Menschen.

Der Autor ist promovierter Theologe und Diplompädagoge und arbeitet auf dem Gebiet der Grundschulpädagogik unter besonderer Berücksichtigung der interkultrellen Erziehung und Bildung am FU- Institut für interkulturelle Erziehung.