Wieder anfangen zu kämpfen

■ Die Sozialdemokratie hat nie das Asylrecht in Zweifel gezogen, dafür gekämpft hat sie jedoch auch nie/ Plädoyer für Humanität und Einwanderungsquoten

Es ist noch nicht lange her, da wäre ausgelacht worden, wer ständig betonte: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Warum das dauernd sagen? Steht doch im Grundgesetz!

Noch nicht lange her, da wäre als Wirrkopf abgestempelt worden, wer prophezeit hätte, daß in Deutschland noch einmal Menschen wegen ihrer Hautfarbe ermordet werden.

Keine drei Jahre hat es gedauert, bis das Undenkbare Realität wurde. Europa fällt in den Nationalismus zurück. Im Osten greifen Chauvinisten zu den Waffen, der Westen entfernt sich von der europäischen Einigung immer mehr. Und mittendrin läßt sich die Bundesrepublik zurücktreiben.

Wer seither nichts getan hat, als seine alten politischen Überzeugungen zu bewahren, findet sich plötzlich als Linksaußen wieder. Wer nichts getan hat als zu betonen „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, ist überrollt worden. Auch die SPD. Bis Petersberg hat sie das Asylrecht nie ernsthaft in Zweifel gezogen. Aber sie hat nicht dafür gekämpft.

Die alten Werte müssen neu erkämpft werden. Wahlrecht für Ausländer? Ein Grundrecht auf Arbeit? Verbot von Waffenexporten? Es hilft wenig zu jammern, daß wir schon mal weiter waren. Wir müssen eben wieder vorn anfangen. Aber wir müssen anfangen. Wieder anfangen zu kämpfen.

Darin liegt der Wert der Asyldebatte, die die SPD in den letzten Monaten geführt hat. Das Treibenlassen ist gestoppt, weil sich die Basis quergelegt hat. Der Parteitag wird einen Beschluß fassen, der auch das Getriebenwerden stoppen wird.

Die SPD hat sich auf drei Prinzipien geeinigt. Das erste heißt: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“ Ohne Abstriche, ohne Gesetzesvorbehalt. Das Asylrecht zu beschneiden hieße, das Fundament der Bundesrepublik zu beschädigen.

Das zweite Prinzip heißt: Gegen Asylentscheidungen steht jedem der Rechtsweg offen. Die Rechtswegegarantie, hat der Verfassungsrechtler Richard Thoma gesagt, „ist der Schlußstein im Gewölbe des Rechtsstaates“. Ohne ihn hätte kein Grundrecht Bestand.

Das dritte Prinzip ist neu: Wir wollen die europäische Einigung, und wir wissen, daß die Fluchtbewegungen aus der Dritten Welt und vor allem aus dem Osten ein europäisches Problem sind. Also müssen wir an einer europäischen Asylregelung arbeiten. Wir wollen rechtsstaatliche Asylentscheidungen gegenseitig anerkennen, und wir wollen zu Quotenregelungen kommen, wie wir sie bereits unter den Bundesländern praktizieren.

Dafür wollen wir das Grundgesetz ergänzen. Das ist legitim, weil seine Väter und Mütter die europäische Einigung 1949 nicht vorhersehen konnten. Und es ist nötig, weil ein offenes und vereintes Europa die Last der Fluchtbewegungen nicht auf das Land abschieben kann, das zufällig als erstes auf dem Weg vom Osten in die Industriestaaten liegt.

Diese drei Grundsätze sind der Kern des Antrages, den der SPD- Parteitag behandelt. Wenn Herr Stoiber sagt, das sei mit ihm nicht kompromißfähig, dann stimme ich ihm zu: Mit einer CSU, die per Parteitagsbeschluß zum Bruch der Verfassung und des Völkerrechts aufruft, kann es keinen Kompromiß geben.

Bei den Verhandlungen mit der Bonner Koalition muß klar sein: Über eine Einschränkung des Grundrechts auf Asyl kann man mit der SPD nicht reden. Es wird mit uns weder pauschale Ausweisungen nach Länderlisten noch Zurückweisungen an der Grenze noch Abschiebungen vor oder während eines Gerichtsverfahrens geben. Denn all das wäre ein Bruch der Genfer Flüchtlingskonvention.

Die entscheidenden Möglichkeiten, unsere Gemeinden kurzfristig zu entlasten, liegen auf der Verwaltungsebene: In Niedersachsen brauchen wir inzwischen zwei von drei Unterkunftsplätzen für Menschen, die keine Entscheidung über ihren Asylantrag bekommen, weil Bundesinnenminister Seiters längst bewilligte Entscheiderstellen beim Bundesamt nicht besetzt: Nicht die Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, sind das Problem, sondern wie mit ihnen umgegangen wird!

Wer also nicht ausländerfeindliche Stimmungen bedienen, sondern ernsthaft die Gemeinden entlasten will, muß als erstes die 450.000 nicht entschiedenen Anträge abbauen. Der Bundesinnenminister muß genug Personal beim Bundesamt einstellen.

Wer das Asylverfahren weiter entlasten will, muß einen gesicherten Status für Bürgerkriegsflüchtlinge außerhalb des Asylrechts schaffen: Nach den Statistiken von Herrn Seiters brauchte jeder zweite Flüchtling gar keinen Asylantrag zu stellen, weil er – zum Beispiel als Bürgerkriegsflüchtling – ohnehin ein Recht hat, in der Bundesrepublik zu bleiben. Und schließlich könnte ein Einwanderungsgesetz einen weiteren erheblichen Teil der Asylanträge überflüssig machen.

Das Problem ist: Diese Vorschläge sind alle nicht neu. Bonn hätte sie längst umsetzen können. Dies wird der eigentliche Gegenstand der Verhandlungen mit der Bonner Koalition sein, und deshalb werden diese Verhandlungen unweigerlich scheitern, wenn sich in der CDU die durchsetzen, die sich an die Asyldebatte klammern, um über andere Fehler nicht reden zu müssen.

Das Absurde an der Bonner Debatte ist: Je „radikaler“ die Vorschläge, um so weniger helfen sie im Konkreten. Wer wirklich Flüchtlinge per Grundgesetzänderung aussperren will, muß den Eisernen Vorhang wieder aufbauen. Und zwar perfekter, als er je war. Auch an der Grenze zu Österreich.

Vor zwei Jahren hat man die Forderung nach einer neuen Verfassung für das vereinte Deutschland abgewürgt. Weil wir ja schon die beste Verfassung der Welt haben. Heute müssen wir um diese Verfassung kämpfen – nicht nur in der Asylfrage. Die Qualität einer Verfassung besteht in den Grenzen, die sie der Politik setzt. Ein Grundgesetz, das der Tagespolitik niemals lästig würde, verdiente diesen Namen nicht.

Wenn unsere Debatte der letzten Monate dies wieder ins Bewußtsein gerückt hat, dann hat sie geholfen. Dann kann sie ein Ansatz sein zu einer demokratischen Offensive weit über die Asylfrage hinaus. Für eine neue Politik der internationalen Solidarität, der europäischen Einigung und der sozialen Einheit in Deutschland waren die Demonstrationen der letzten Tage ein guter Anfang. Gerhard Schröder

Der Autor ist Ministerpräsident (SPD) von Niedersachsen