„Da ist etwas Schlimmes im Gange“

■ Interview mit Elie Wiesel über den Hang der Deutschen, die rassistischen Krawalle und den Antisemitismus totzuschweigen/ Die Bilder aus einig Deutschland bereiten Wiesel „Sorge“ und Ratlosigkeit – aber auch „Wut“

Prof. Dr. Elie Wiesel, 64 Jahre alt, überlebte Auschwitz und Buchenwald; seine Eltern wurden dort ermordet. Diese Erfahrung prägt das ×uvre des in Rumänien geborenen Juden Elie Wiesel, das Romane, Essays, Theaterstücke und historische Texte umfaßt. 1986 erhielt er den Friedensnobelpreis; Wiesel lehrt an der Universität Boston Literatur und Philosophie.

taz: Im Januar 1990 haben Sie in einem „Spiegel“-Interview vor einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten gewarnt. Die Deutschen seien noch nicht bereit, sagten Sie damals. Sie sind massiv für diese Warnung, diese „Einmischung“, kritisiert worden. Rückblickend erscheinen Ihre Äußerungen eher zaghaft. Haben Sie sich je vorstellen können, so sehr recht zu behalten?

Wiesel: Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie der Herausgeber des „Spiegel“, Herr Augstein, auf meine Äußerungen geantwortet hat – und zwar ziemlich unverschämt. Er sagte damals sinngemäß, in Jerusalem würden Leuten die Knochen gebrochen, nicht in Berlin. Diese Art des Denkens und der Argumentation fand ich damals schon unmöglich. Mir ging es wirklich nie darum, recht zu behalten. Ich habe eher gedacht und gehofft, daß die Dinge besser würden. Ich habe nie damit gerechnet, daß es in Deutschland zu solchen Ereignissen wie in Rostock kommen könnte. Da ist etwas Schlimmes im Gange.

Andererseits gibt es ein paar Hoffnungsschimmer wie die Demonstration in Berlin, an der über 300.000 Menschen teilgenommen haben. Wobei ich da auf einen Aspekt hinweisen möchte: Ich komme selbst gerade aus Frankreich zurück, wo die Ereignisse in Deutschland sehr genau verfolgt werden. Dort vergleicht man die Situation sehr oft mit Carpentras. (Im Mai 1990 hatten Neonazis den jüdischen Friedhof im südfranzösischen Carpentras völlig verwüstet; eine Woche später demonstrierten in Paris spontan 200.000 Menschen, darunter Staatspräsident Mitterrand; d. Red.) Die große Demonstration nach Carpentras wurde von den Bürgern initiiert und getragen; in Deutschland bedurfte es des Anstoßes von oben, von den Parteien und anderen Organisationen.

Was erschreckt Sie am meisten: Die Präsenz der Rechtsradikalen, der Beifall von Gaffern oder die Schwäche der Opposition?

Am meisten erschreckt mich das Klima des Hasses. Wo solcher Haß erst einmal ausgebrochen ist, kann man ihn kaum mehr stoppen. Solchem Haß kann man nur noch mit der Kraft moralischer Autorität entgegentreten. Und diese moralische Autorität sehe ich in Deutschland nicht. Deswegen setze ich meine ganzen Hoffnungen auf die jungen Menschen in Deutschland.

Im „Spiegel“-Interview vor zwei Jahren haben Sie gesagt, Bundeskanzler Helmut Kohl versuche eine „Normalisierung Deutschlands“. Was meinten Sie damit?

Mein Mißtrauen gegen Kohl hat mit der Bitburg-Affäre 1985 begonnen. (Im April 1985 besuchte Kanzler Kohl zusammen mit dem damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan den Soldatenfriedhof im Eifelstädtchen Bitburg, auf dem auch 50 Angehörige der Waffen-SS begraben sind; d. Red.) Das war letztendlich ein Versuch, die SS reinzuwaschen. Da wurde meiner Ansicht nach dieser Prozeß der Normalisierung begonnen mit der impliziten Aussage, daß es eigentlich so schlimm nicht war, Mitglied der SS gewesen zu sein. Ich halte Kohl nicht für einen Antisemiten. Aber er hat sich mit dem rechten Flügel eingelassen, er hat mit den nationalistischen Emotionen gespielt. Damit hat er das Klima mitgeschaffen, das nun Rechtsradikale und Antisemiten ausnutzen.

Halten Sie die deutsche Regierung für mitschuldig?

Schuld ist ein schweres Wort. Sagen wir es so: Die Regierung muß sich für die derzeitige Situation verantworten, weil sie nicht genügend Gegenmaßnahmen gegen rassistische und antisemitische Gewalt ergriffen hat. Ich habe gerade erfahren, daß auch gegen einige Bundeswehrsoldaten wegen rechtsradikaler Gewalttaten ermittelt wird. Natürlich ist eine Regierung verantwortlich für das, was in ihrer Armee passiert.

Auf der Berliner Demonstration gegen Rassismus und Antisemitismus sind Bundeskanzler Kohl und Bundespräsident von Weizsäcker ausgebuht und attackiert worden, unter anderem weil viele der Demonstranten die Teilnahme dieser Politiker an der Demonstration für heuchlerisch gehalten haben. Hätten Sie an der Seite von Herrn Kohl mitdemonstriert?

Mit Kohl? Ich glaube kaum. Mit Herrn von Weizsäcker hätte ich demonstriert.

Eine der Reaktionen der Kohl- Regierung auf die rassistischen und neofaschistischen Angriffe besteht nun darin, das Grundrecht auf politisches Asyl abschaffen zu wollen, um so die Zahl der Flüchtlinge zu senken.

Ich kann mich hier nicht zu den Details der deutschen Verfassung äußern, dazu kenne ich sie zu wenig. Lassen Sie mich soviel sagen: Eine Gesellschaft wird an ihrem Umgang mit den Fremden gemessen. Gerade Deutschland kann in dieser Frage der Vergangenheit nicht ausweichen. Deutschland hat aufgrund seiner Vergangenheit eine Verpflichtung gegenüber Flüchtlingen. Um dieser Verpflichtung gerecht zu werden, müssen auch Opfer gebracht werden. Ich sage das, weil ich glaube, daß die moralische Verfassung einer Nation genauso wichtig ist wie ihre ökonomische Verfassung.

Setzen Sie Hoffnungen in die politische Opposition im deutschen Bundestag, also vor allem in die SPD?

Ich höre wenig von den Sozialdemokraten. Ich höre wenig Protest, ich höre keinen Aufschrei, der laut genug ist, ich sehe keine symbolischen Gesten. Ich hätte mir gewünscht, daß zum Beispiel unmittelbar nach den antisemitischen Ausschreitungen nichtjüdische Deutsche bei den jüdischen Deutschen von Tür zu Tür gegangen wären, um zu sagen, daß ihnen diese Attacken leid tun. Es ist eine kleine Geste. Aber sie wäre wichtig gewesen.

Stimmen werden lauter, die die gegenwärtige Situation mit den Zuständen der Weimarer Republik vergleichen. Es mag gute Gründe geben, das nicht zu tun, aber bei den Bildern brennender Flüchtlingsheime, eingeschlagener Fensterscheiben und grölender Neonazis drängen sich solche Assoziationen auf. Halten Sie solche Analogien für legitim?

Ich mag solche Analogien nicht, weil sie die Ereignisse, die verglichen werden, verzerren. Und ich glaube, daß die Erinnerung an den Holocaust verhindern wird, daß je etwas Ähnliches wieder stattfindet. Trotzdem haben Juden in Deutschland erstmals seit dem Faschismus wieder Angst – und keiner soll überrascht sein, wenn sich in der nächsten Zeit viele entschließen, dieses Land zu verlassen. Ich kann Ihnen sagen, was die Bilder marschierender Neonazis bei mir auslösen: Sorge, Ratlosigkeit und eine enorme Wut. Interview: Andrea Böhm