Deutschland, deine Täter!

Für die Renaissance von Rassismus und Gewalt im weniger denn je vereinten Deutschland gibt es keinerlei Rechtfertigung/ Reden wir deshalb Tacheles: Laßt Altnazis, Neonazis und Skins gefährdet leben – und nicht die Ausländer  ■ Von Ralph Giordano

Wir erfahren eine Situation, wie es sie seit 1945 nicht gegeben hat: über Deutschland rast eine epidemische Ausländerfeindlichkeit, ein rassistischer Flächenbrand, der die Embleme und Wahrzeichen des Nationalsozialismus hochreckt und dabei bereits über zwanzig Menschen ermordet hat. Dies unter dem Applaus sich breitarmig aus dem Fenster lehnender Bevölkerungsschichten, nebst der weichlichen Defensive eines Staates, der stets auf sein „Gewaltmonopol“ gepocht und es auch mit äußerster Härte angewendet hat, wenn es gegen Linke ging oder was dafür gehalten wurde. Der deutsche Rechtsradikalismus dagegen kann ihn und seine Organe heute nahezu ungestraft verspotten und verlachen. Ein Gespenst geht um im vereinten Deutschland, dieser Dritten demokratischen Republik nach der Ersten von Weimar und der Zweiten der alten Bundesrepublik – das Gespenst einer braunen Wiedergeburt! Diesmal nicht, wie Mitte der sechziger Jahre, als vorübergehende Erscheinung, sondern heute tief eingebettet in die Gesellschaft und morgen auch in das parlamentarische Gefüge von Bund und Ländern.

Ein zufälliger Betriebsunfall deutscher Geschichte ist die Mordbrennerei, die sich da so gut wie risikolos austoben kann, nicht. Vielmehr besteht eine historische und politische Verbindung zwischen der gegenwärtigen Aktivität der Rollkommandos deutscher Rechtsradikaler und den Versäumnissen der Vergangenheit.

Zunächst die alte Bundesrepublik: Erst jetzt geht blutig die Saat ihrer zweiten Schuld auf, nämlich der Verdrängung und Verleugnung der ersten unter Hitler nach 1945. Es war hier, wo dem größten geschichtsbekannten Verbrechen mit Millionen Opfern, die, wohlbemerkt, hinter den Fronten des Zweiten Weltkriegs umgebracht worden sind wie Insekten, das größte Wiedereingliederungswerk für Täter gefolgt ist, das es je gegeben hat. Viele konnten ihre Karrieren auch unbeschadet fortsetzen. Die „Fachleute der Zerstörung“ vor 1945 wurden ganz selbstverständlich zu den „Fachleuten“ des Wiederaufbaus danach, und die Elite aus Wirtschaft, Industrie und Staatsbürokratie war bis in die siebziger Jahre hinein fast identisch mit der unter Hitler. Jetzt erst rächt sich katastrophal die organisierte Ent-Strafung der NS-Täter, rächt sich, daß ihnen nahezu pauschal Absolution erteilt wurde, den Großen und den Kleinen, den Schreibtischmördern des Holocaust, den Chefs des Vernichtungsapparates wie auch Tausenden Exekutanten des Reichssicherheitshauptamtes unter Heydrich und Kaltenbrunner. Unvergessen das 131er Gesetz, mit dem fast der gesamte NS-Beamtenapparat in die demokratische Verwaltung übernommen wurde. Unvergessen vor allem, daß kein einziger der NS-Blutrichter und -Staatsanwälte von der Bundesjustiz je rechtskräftig verurteilt worden ist.

Und daneben dann, ebenbürtig auf ihre Weise, die ehemalige DDR, mit der ganzen Oberflächlichkeit ihres „verordneten Antifaschismus“, dieser Einparteien- und Staatsmißgeburt, die genährt war von der abenteuerlichen Lüge, die DDR sei so etwas wie ein Mitsieger des Zweiten Weltkrieges, ja ein Teil der Anti-Hitler-Koalition gewesen. Nur folgerichtig, daß diese Staatsführung sich ideell und materiell der deutschen Verantwortung für Nazismus und Holocaust entzog, voll auf der Parteilinie des sowjet-stalinistischen Antisemitismus lag und eine prononciert anti- israelische Außenpolitik betrieb. Wir erleben gerade die lodernden Konsequenzen all dieser Lebenslügen. Heute explodiert das dumpfe Gebräu, das sich unter der betrügerischen Decke des verordneten Antifaschismus komprimiert hatte, und wir sehen, mit welchen mörderischen Konsequenzen. Deutschland, deine Täter!

Kein Gehör deshalb den Stimmen, die behaupten, das, was sich da zum Entsetzen einer ganzen Welt tut, sei bloßer Zufall, der sich auch anderswo zutragen könnte. Nein und abermals nein! Der Tornado der rassistischen Fremden- und Ausländerfeindlichkeit, diese ganze Renaissance einer ungezügelten und jeder Mordhuberei fähigen Gewaltbereitschaft – sie wurzeln tief in jener zweiten Schuld der Verdrängung und Verleugnung, die beide deutsche Teilstaaten einst auf sich geladen haben. Gleichzeitig wäre es töricht, so zu tun, als ob das Ausländer- und Zuwanderungsproblem keines wäre oder ein leicht lösbares. Falsch auch, alle Ängste und Beklemmungen Einheimischer auf die leichte Schulter zu nehmen, sie völlig zu ignorieren, als feindlich zu denunzieren. Aber wie legitim unterschiedliche Meinungen immer sein mögen, auf welche Weise das große Problem der Zuwanderung zu lösen sei – in vier Punkten kann es nichts als grundsätzliche Einigkeit geben:

Erstens: Deutschland ist faktisch längst ein Einwanderungsland und muß sich nun endlich auch offiziell dazu bekennen.

Zweitens: Die Aufnahme politischer Flüchtlinge muß als Charta der Menschlichkeit im Grundgesetz unangetastet bleiben.

Drittens: Alle Ankömmlinge müssen menschenwürdig behandelt werden.

Viertens: Für Rassismus und Ausländerfeindlichkeit und für die daraus entstehende Gewalttätigkeit gibt es keinerlei Rechtfertigung, auch nicht die geringste, weder eine soziale noch eine politische, noch eine historische, noch eine moralische.

Wir kennen die landläufigen Begründungen, auf die sich die Gewalttäter und ihre Sympathisanten berufen: Arbeitslosigkeit, sozialer Frust, tatsächliche oder vermeintliche Perspektivlosigkeit. Die Wirklichkeit, die dahinterstecken kann, ist nicht leicht zu nehmen, darüber kann nicht einfach weggehuscht werden. Das sind Lebensumstände, die nichts als schleunige Abhilfe verlangen. Aber wer daraus den Schluß zieht, daß es gerechtfertigt sei, deshalb Brandbomben zu basteln und Molotowcocktails gegen die Insassen von Ausländer- und Asylheimen zu schleudern, dem muß unmißverständlich klargemacht werden, daß er kein Revolutionär, kein Märtyrer, kein nationaler Held ist, sondern nichts als ein potentieller Mörder! Das muß ihm mit aller Kraft des Gesetzes und dem sichtbaren Gemeinwillen der Gemeinschaft klargemacht werden. Nur lassen wir uns nicht täuschen: die Vorwände für die Gewalt sind austauschbar. Glaubt denn irgend jemand, der deutsche Rechtsradikalismus würde sich in Luft auflösen, wenn das Ausländer- und Zuwanderungsproblem gelöst sein würde? Dann käme anderes an die Reihe – die Phantasien rassistischer Gewalttäter sind unbegrenzt.

Schwindel sind nur allzu viele Verlautbarungen aus den Reihen staatlicher Repräsentanten und Politiker – sie schrecken. Es schreckt, wenn schlicht geleugnet wird, daß heute die Gefahr eindeutig von rechts kommt. So etwa, wenn der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern behauptet, die Brandstifter von Rostock seien gar keine Rechten, sondern identisch mit den Protestierern von Mutlangen, Brokdorf und der Frankfurter Startbahn West. Wenn es tatsächlich so gewesen wäre, wenn tatsächlich Linke gezündelt und gemordet hätten – dann wäre der Spuk doch lange schon vorbei, dann hätte dieser Staat doch ganz anders zugeschlagen, dann stünde ein zweites Stammheim schon fix und fertig da!

Was geht in diesem Deutschland eigentlich vor sich? Wen wundert da noch der perverse Einfall, in Peenemünde mit Sekt und Kaviar den vor fünfzig Jahren erstmals gelungenen Abschuß jener V2-Rakete zu feiern, die Tausenden von KZ-Häftlingen und Londonern das Leben gekostet hat? Und wer will uns einreden, daß jene Verbrecher, die das Jüdische Museum auf dem Terrain des ehemaligen KZs Sachsenhausen-Oranienburg bei Berlin ferngezündet in die Luft sprengten, nicht auch bereit wären, jüdische Menschen zu töten?

Sprechen wir offen: Nicht nur für Ausländer, auch für die Überlebenden des Holocaust und für ihre Familien zeichnet sich im Zuge eines grassierenden Rassismus mit auswechselbaren Aggressionsobjekten und austauschbaren Vorwänden eine neue Situation ab. Sie ist gekennzeichnet durch eine offenbar eingeborene Systemschwäche gegenüber dem Rechtsextremismus – ich erinnere an den Aufmarsch im thüringischen Rudolstadt anläßlich des fünften Todestages von Rudolf Heß, Hitlers einstigem Stellvertreter, sowie an die Demonstrationen aus dem gleichen Grund im oberfränkischen Bayreuth und dem niedersächsischen Wunsiedel. Obwohl alle drei nicht genehmigt waren, fanden die Aufmärsche dennoch unbehindert statt. Die Weimarer Republik läßt grüßen. Man vergegenwärtige sich, was da geschehen ist, und male sich aus, was antinazistischen Demonstrationen widerfahren wäre, wenn sie gegen höchstrichterliche Beschlüsse verstoßen hätten.

Beunruhigung unsererseits wäre keine gebührende Reaktion mehr, zumal der Freiraum, der dem rechtsextremistischen Mob belassen wird, sich nicht mehr aus bloßen Organisationsmängeln oder Reaktionsdefiziten erklären läßt. Penetrante Verharmlosung der zeitgenössischen Variante des Nationalsozialismus durch hohe Politiker, lippenbekenntnishafte Abscheu und relativierendes Verständnis für die Täter – sie beherrschen die Szene.

Jeder ist wohl in diesen Wochen via Bildschirm dessen Zeuge geworden: der Staat wird notorisch durch die gewalttätige Rechte verunglimpft, lächerlich gemacht, in Grund und Boden gejohlt. Dabei sind die Gewalttäter selbst nur der äußere, medienspektakuläre Kreis. Ihm schließt sich, ebenfalls noch erkennbar, der zweite der öffentlichen Übereinstimmung weiter Bevölkerungsschichten an. Der dritte Kreis, die politischen Organisatoren des deutschen Rechtsextremismus, sind schon nicht mehr so sichtbar, und erst recht nicht der vierte, der innere Kreis, der die Fäden zu oberen Sympathisanten spinnt und sich nach allen Erfahrungen in deren abwiegelnder Obhut sicher wissen darf.

Es wird hier nicht leichtfertig hingesagt: mit der rassistischen Ausländerfeindlichkeit und ihren blutigen Manifestationen droht auch für die Überlebenden des Holocaust und für die ganze jüdische Gemeinschaft im vereinten Deutschland ein neues Zeitalter aufzukommen – denn immer ist natürlich auch Antisemitismus im Spiel. Der Appell an den uns von den Nazis injizierten Fluchtinstinkt hat sich dramatisch verstärkt. Nichts hat mich in letzter Zeit so sehr erschüttert wie die konsternierte Frage eines jüdischen Freundes: „Muß ich nun wieder emigrieren?“ – das vor dem Hintergrund einer ersten Emigration im Jahre 1935 und der Rückkehr Mitte der sechziger Jahre. Unter Insassen jüdischer Alters- und Seniorenheime geht die Furcht um, daß sie die nächsten Aggressionsziele der Gewalttäter werden könnten.

Ist das Deutschland von heute willens und imstande, dem braunen Spuk ein schnelles Ende zu bereiten? Oder kann es die Gespenster, die aus der Flasche der zweiten Schuld und des verordneten Antifaschismus entwichen sind, nicht mehr bannen? Ist man sich hier eigentlich darüber im klaren, wie hauchdünn sich die Decke, unter der das Erinnerungsvermögen der ehemals deutschbesetzten Völker liegt, erweisen wird, falls die Schönhubers und Freys in den nächsten, den 13. Bundestag einziehen würden? Wird es sich bestätigen, daß Deutschland in Krisen- und Notzeiten weit nach rechts rückt? Wird sich der Argwohn bestätigen, daß Deutschland letztlich doch nur eine Schönwetter-Demokratie sein wird und daß, wenn die wirtschaftlichen und sozialen Zeichen auf Sturm stehen, größere Wählermassen tatsächlich wieder unter dem Dach des braunen Ungeistes von gestern Zuflucht suchen werden? Und: Wäre die Grenze des Erträglichen nicht schon weit überschritten, wenn eine Große Koalition das einzige Mittel sein würde, um im kommenden Bundestag den organisierten Rechtsradikalismus nicht zum Zünglein an der parlamentarischen Waage werden zu lassen?

Ich warne die Verantwortlichen dieses Staatswesens, die Entschlossenheit der Überlebenden des Holocaust, sich und ihre Familien angesichts neuer Gefahren für Leib und Leben selbst zu schützen, nicht zu unterschätzen. Niemals wieder werden wir unseren Todfeinden wehrlos gegenüberstehen – niemals. Ich warne die Verharmloser in der Polizei, im Verfassungsschutz, in den Länderparlamenten, im Bundestag und in der Regierung, den Grad dieser Entschlossenheit zu verkennen.

Ich gestehe, daß die Ereignisse im letzten Jahr mein Verhältnis zu Deutschland verändert haben. Die Zuversicht, daß ein nazistischer Triumph in modern abgewandelter Form nicht mehr möglich sei, ist mir zwischen 1991 und 1992 abhanden gekommen. Sie hat einer offenen Zukunft Platz gemacht, für die ich befürchte, daß sich der deutsche Staat und seine Organe gegenüber dem Rechtsradikalismus je opportunistischer gebärden werden, desto gewichtiger dessen Wählerpotential wird.

Zum Schluß noch dies: Mit keinem Satz, mit keinem Wort will ich von d e n Deutschen gesprochen haben. Ich rechne vielmehr mit breiter Bundesgenossenschaft im Kampf gegen Ausländerfeindlichkeit und den Rechtsradikalismus. Ich rechne mit denen, die wissen, daß auch sie bedroht sind.

Solidarisieren wir uns mit den attackierten Ausländern, und verbünden wir uns mit den humanen Deutschen – es sind ihrer viele. Und: Laßt uns mithelfen, Verhältnisse zu schaffen, unter denen nicht Deutsche guten Willens, nicht Ausländer, nicht Fremde, nicht Juden gefährdet leben, sondern Nazis, Neonazis, Skins und jede andere Spielart von Radikalen, Extremisten und Fanatikern. Laßt uns streiten für eine Gesellschaft, deren Organe und deren Mehrheit so lange permanenten Druck auf die Brandstifter und Zündler, auf die Organisatoren hinter ihnen und auf die offenen und heimlichen Sympathisanten ausüben, bis die aufgeben werden.