Wir haben hier keine bleibende Statt

■ Bremer Projektgruppe weiht dem „Passagen-Werk“ von Benjamin ein Buch, ein Konzert und eine Ausstellung

Die Wände hängen voll der fettesten Zitate, allüberall fallen einem gebratene Benjamintexte in die Augen, und vielerlei Skizzenbilder nähren sie Seele; wahrhaftig, in der Städtischen Galerie ist ein neues Schlaraffia des Geistes ausgebrochen, und friedlich grast die Kunst neben dem Quatsch. Aber zuerst die Fakten.

Eine Projektgruppe an der Hochschule für Künste huldigt seit langem dem Passagen-Gedanken, verführt von Walter Benjamins „Passagen-Werk“, allwo erstmals die Moderne sich so richtig als Durchgang zum Nirgendwo erkannte. „Passagen sind Häuser oder Gänge, welche keine Außenseite haben — wie der Traum“, schrieb Benjamin. Und drinnen wandelt, seit Benjamin, der Flaneur und sammelt unentwegt Eindrücke.

Da traf es sich, daß man an der hiesigen Kunsthochschule als Professor den Zeichner Wolfgang Schmitz hat, welcher eh schon seit Jahr und Tag mit seinem Skizzenbuch durch die Welt, jawohl, flaniert und Passagen zeichnet, auch Brücken und allerhand städtische Winkel, und nebenher noch von jedem Kanaldeckel Schriftabdrücke, nämlich „Frottagen“ nimmt.

Schmitzens Zeichnungen „nach Walter Benjamin“ also sind ab heute in der Städtischen

Wolfgang Schmitz: Galleria Vittorio Emanuele, Mailand, 1989

Galerie zu sehen; das ist der eine, der Hauptteil des Projekts. Schmitz verwischt, verflüchtigt geradezu, was sonst doch festgemauert in der Erden steht; seine Architektur ist nur noch ihre eigene Erscheinung und wird, warte nur, verschwinden wie aller Spuk. Wer darob noch klaren Kopf behält, kann heute abend mehr kriegen: Da wird die Ausstellung eröffnet mit einer Le

hierhin bitte

das chaotische

Gemälde

sung, vollführt von fünf Mitgliedern der Shakespeare-Company zugleich: Benjamin, Kafka, Baudelaire aus fünf Winkeln des wunderlichen Gebäudes, Literatur zum Durchschweifen.

Im unteren Geschoß hingegen kann man sehen, was einige HfK-Studenten der Projektgruppe Eckhard Jung ausgeheckt haben: Plakate mit lauter großen, verschwommenen Let

tern, in den Ecken bedruckt mit Benjamin-Fragmenten. Eine durchaus weihevolle Inszenierung der Texte; allerdings muß man die Phrase vom Denker des Ungefähren nicht auch noch auf Typografisch wiederholen; es fiele ja auch keinem ein, die Texte des Säufers Bukowski in torkelnden Buchstaben setzen.

Unten, wo man eintritt, kleben Zauberworte wie Katakombe oder Aura oder Erinnerung an den rohen Wänden, was beweist, daß die Sprachmagie immer noch Anhänger findet. Schon regt sich Argwohn: Ist das nicht alles bloß ein dumpfes Gewummer im Sound von Benjamin? Kann Kunst überhaupt mit dem Denken? In die schwarz verklebten Fenster gleich gegenüber aber sind Texte geschnitten, die man einfach auf schönstmögliche Weise lesen kann: Man sieht hindurch auf die Baustelle nebenan, wo das Leben noch unbedacht werkelt.

Überall sind so kleine Funde zu machen, nichtig aber oho, vielviel Flachsinn und Herzbewegendes wild durcheinander; die Fülle ist enorm, ja sie ist das Prinzip, welches unsereinen mit dem ganzen verwickelten Projekt doch wieder versöhnt.

In dem weitschweifigen Altbau verläuft man sich ja gern; und wer auf wildesten Müßiggang aus ist, kann sich mit Hilfe des Alphabets Wege durch all das assoziative Dickicht bahnen. Schmitz hat seine Zeichenthemen geordnet wie Benjamin sein Buch: fragmentweise von A bis Z. Lauter Durchgänge bieten sich hin und wider, Passagen halt. Und gegenüber hängen die sehr schönen Fotos, auf denen Robert Doisneau vor zehn, zwanzig Jahren die Pariser Passagen, die an allem schuld sind, verewigt hat.

Aus alledem hat Victor Malsy ein Katalogbuch von sinnreicher Schönheit gestaltet, in welchem auch nicht schlecht lustwandeln ist; den Bildern springen gelehrte Texte bei, die Randspalten sind voller anregender Einsprengsel, so daß man beliebig einsteigen kann. Über die Passage als solche schreiben die Projektgrüppler Peter Rautmann und Nicolas Schalz; der Benjamin-Übersetzer schreibt, na, über den Übersetzer als Flaneur u.v.a.m., achja, und Schalz schreibt über Benjamin und die Musik, womit wir bei dem Konzert mit zeitgenössischer Musik wären, welches am 13. Dezember die Ausstellung und zudem ein dreitägiges Symposium „Zur Aktualität von Walter Benjamin“ beschließt; davon später mehr. Gleich morgen aber um 20 Uhr kehrt Oskar Negt in der Städtischen Galerie ein und hält einen diesbezüglichen Vortrag. schak

Städt. Galerie, Buntentorsteinweg 112