Diskriminierung einklagbar machen

■ Behinderte wollen nicht länger vom Wohlwollen von Behörden oder Juristen abhängen / Antidiskriminierungsgesetz und Ergänzung des Grundgesetzes gefordert / Frauen doppelt benachteiligt

Berlin. Eine Reise im Rollstuhl findet bei der Bundesbahn im Gepäckwagen statt. In den Personenabteilen ist für Rollstühle kein Platz. Möglicherweise wird sich auch das bald erübrigen. Als Bärbel Reichert letzte Woche eine Urlaubsreise buchen wollte, teilte ihr die Dame hinter dem Schalter mit, an Behinderte verkaufe das Reisebüro gar keine Reisen mehr. „Wir hatten immer Ärger nach solchen Buchungen. Die Mitreisenden beschwerten sich über Beeinträchtigung ihrer Urlaubsstimmung, oder den Behinderten war nichts recht zu machen. Sie kennen doch sicher das Flensburger Urteil.“

Das Amtsgericht Flensburg hatte im Oktober der Klage zweier Türkeireisender stattgegeben, die die Gegenwart von Behinderten im Hotel als Reisemangel empfanden. Der Veranstalter wurde zur Wiedererstattung von zehn Prozent des Preises verurteilt. In der Begründung hieß es, der Anblick speisender Behinderter verursache Ekel und sei nur „ungewöhnlich selbstlosen und ethisch hochstehenden Menschen“ zuzumuten.

„Mit einem solchen Urteil werden wir auf die Kategorie von Schadensformen reduziert, wie verdreckte Strände oder kaputte Wasserleitungen“, sagte der gehbehinderte Richter Horst Frehe. „Gäbe es ein Antidiskriminierungsgesetz für Behinderte, wäre dieses Urteil nicht möglich gewesen.“ Man wolle nicht länger auf das Wohlwollen von Behörden oder Juristen angewiesen sein, sondern einklagbare Rechte haben. Auch eine Ergänzung des Artikels3 Grundgesetz sei notwendig, da dort ein Staat die Grundsätze und Rechtsgüter formuliere, auf die sich die weitere Gesetzgebung stütze. Die könnten im Fall von Interessenabwägungen ins Feld geführt werden. Beides forderte das Berliner Bündnis für Gleichstellung und gegen Diskriminierung der Menschen mit Behinderung am Samstag auf einer Tagung. In Arbeitsgruppen wurden die Notwendigkeit von gesetzlichen Regelungen und die Bereiche, auf die sie sich beziehen sollten, diskutiert.

Obwohl Behinderte mit etwa zehn Prozent der Bevölkerung keine vernachlässigenswerte Minderheit darstellten, seien nur etwa 30 Prozent der Berliner Infrastruktur für sie nutzbar, faßte Bärbel Reichert die Ergebnisse der AG „Tägliche Diskriminierungen“ zusammen. Stufen und enge Türen, Verbote in Theatern und Kinos und mangelnde Pflegeassistenz schließe sie vom öffentlichen Leben aus. Andrea Schatz schilderte die mehrfache Diskriminierung behinderter Frauen. Ihnen werde das Recht auf Sexualität, Mutterschaft oder Adoption abgesprochen. „Die Unterstützungsprogramme für Menschen mit Behinderungen orientieren sich ausschließlich an einer männlichen Biographie, gekennzeichnet durch Erwerbstätigkeit häufig in handwerklichen Berufen.“

In einem Streitgespräch mit Politikern sprachen sich die Vertreter von SPD und Bündnis 90/Grüne für ein Antidiskriminierungsgesetz sowie die Aufnahme des Diskriminierungsverbots in die nationale wie die Berliner Verfassung aus. Horst Krüger (CDU) dagegen wollte erst einmal eine Bewußtseinsänderung herbeigeführt sehen. Auch sollten bestehende Gesetze und die Neufassung des Sozialgesetzbuches auf diskriminierende Folgen untersucht werden. „Wenn wir anfangen, in der Verfassung besondere Personengruppen aufzuzählen, würden wir kein Ende finden.“ Mitveranstalterin Sigrid Arnade reagierte kurz und treffend: „Wenn die Frauen im 19.Jahrhundert erst auf eine Bewußtseinsänderung gewartet hätten, bevor sie das Wahlrecht forderten, hätten wir es heute noch nicht.“ cor