Beckers Magen spielt mit

Die acht besten unverletzten Tennisspieler spielen ab heute in der Frankfurter Festhalle um den Titel des ATP-Weltmeisters  ■ Aus Frankfurt Michaela Schießl

Als das publikumswirksame Plüschtier Andre Agassi (USA) wegen einer Verletzung absagte, blieb der Frankfurter Turnierdirektor Zeljko Franulovic noch gelassen. Ruhig sah er dem bereits am Sonntag trainierenden Ivan Lendl (USA) zu. Doch was er sah, mißfiel ihm. Immer wieder packte sich der zäheste aller Tennisspieler zähneknirschend ans Bein. Und erkannte am Ende des Trainings, daß er mit dieser Zerrung keine Chance hätte beim ATP-Tour-Finale, wenn sich die acht bestplazierten Spieler der Weltrangliste um die Weltmeisterschaft streiten.

Zu schade, trauerte der Turnierdirektor, bis ihn eine neuerliche Horrormeldung aus dem Innenleben eines Akteurs die Nackenmuskeln zusammenkrampfen ließ: dem Zugpferd der Veranstaltung war schlecht. Boris Becker, der sich denkbar knapp erst durch seinen Sieg in Paris Bercy qualifizieren konnte, hatte beim Schauturnier in Rom offenbar einen alten Hummer verspeist und sich eine Magenverstimmung zugezogen. Ion Tiriac hingegen behauptet, es sei der Beginn einer Erkältung. Böse Zungen zischeln, Becker wolle sich nur erholen vor dem schweren Jahresabschluß.

Wie auch immer, Franulovic schwitzte. Frankfurt ohne Boris Becker ist wie Wimbledon ohne Erdbeeren, wie Flushing Meadow ohne Jimmy Connors. Frankfurt ohne Becker? Eine halbvolle Festhalle, geringere Einschaltquoten, weniger Werbeeinnahmen, kein nationaler Taumel. Frankfurt ohne Becker wird teuer.

Glücklicherweise zeigt sich Beckers Magen sowohl dem Veranstalter als auch dem deutschen Tennisfan wohlgesonnen. Kollektives Aufatmen war zu vernehmen, als sich gestern um 14 Uhr zunächst ein roter Haarschopf, dann ein mächtiger Oberschenkel durch die Tür der Frankfurter Festhalle schoben. Er ist da, endlich, das Feld der Besten steht fest. Jim Courier (1), Goran Ivanisevic (4), Michael Chang (5) und Richard Krajicek (10) spielen in der Rod-Laver-Gruppe gegeneinander, Boris Becker (7) muß sich in der Ken- Rosewall-Gruppe mit Stefan Edberg (2), Pete Sampras (3) und Petr Korda (6) herumschlagen. Im Halbfinale spielt der Gruppenerste der Gruppe A gegen den zweiten der Gruppe B und umgekehrt, die Gewinner bestreiten das Finale. 62.000 Dollar erhält der Sieger. Sollte er ungeschlagen sein, sogar 1.160.000 Dollar. Sogar Ersatzspieler Wayne Ferreira (11) wird für seinen Bereitschaftsdienst fürstlich entlohnt. 25.000 Dollar kassiert er fürs Zuschauen, nimmt er den Schläger in die Hand, werden es automatisch 60.000.

Zum drittenmal wird das ATP- Tour-Finale in Frankfurt ausgetragen, nachdem es – damals noch als „Masters“ – vom desinteressierten New York ins tennisverrückte Deutschland verlegt wurde. Andre Agassi holte sich 1990 den ersten Scheck ab, Pete Sampras siegte 1991. Diesmal jedoch geht es um mehr als die Weltmeisterschaft. Für gleich drei Spieler würde der Sieg die Nummer eins der Weltrangliste bedeuten: Jim Courier, blasser Schildkappenfan und aktueller Spitzenreiter, muß sich den Ambitionen des Schweigers Stefan Edberg und des Pete Sampras erwehren.

Eine eher unauffällige Rolle im Feld der Stars spielen der schüchterne Tscheche Petr Korda, sowie der nachgerückte Holländer Richard Krajicek. Beckerartig hatte sich Frauenfeind Krajicek („80 Prozent der Tennisspielerinnen sind fette, faule Schweine“) am Sonntag im allerletzten Moment durch seinen Turniersieg gegen Mark Woodforde in Antwerpen qualifiziert. Es besteht berechtigte Hoffnung, daß das Großmaul in Frankfurt von seinen schlanken, eifrigen Kollegen mächtig das Maul gestopft bekommt. Denn ähnlich wie Korda hat sich Krajicek seine vielen Weltranglistenpunkte nicht durch große Erfolge, sondern durch fleißiges Turnierspielen zusammengesammelt. Während Becker, Courier und Sampras „nur“ 18 Turniere absolvierten, Edberg 19 und Ivanisevic und Chang je 21, mußte sich Korda 28mal in diesem Jahr plagen, Krajicek 23 Mal.

Für Boris Becker bedeutet das ATP-Finale den Abschluß einer Achterbahnsaison. Seit Wimbledon 1991 hatte er ein heftiges Motivationsloch, aus der Erkenntnis entstanden, daß Tennisspielen eigentlich nicht alles sein könne auf der Welt. Wimbledon 1992 schloß sich die Lücke wieder. Er entließ Trainerfreund Tomas Smid, stellte den Österreicher Günther Bresnik ein und trainiert seither wieder ernsthaft. Seine Rückkehr in den Club der Besten kann Becker am 22. November in Frankfurt mit dem ATP-Sieg garnieren – an diesem Tag wird „Mister Emotion“ 25 Jahre alt.