Lohnsubvention für den Osten!

Die meisten Betriebe in Ostdeutschland können die Lohnsumme nicht finanzieren, weil ihnen Absatzmärkte fehlen  ■ Ein Vorschlag von Rudolf Hickel und Jens Priewe

Die Lohnpolitik in Ostdeutschland bewegt sich in einem Dilemma: auf der einen Seite ist eine zügige Angleichung der Löhne an das Westniveau unvermeidbar. Löhne bilden für die beschäftigten Menschen die Basis ihrer materiellen Lebensgestaltung. Sie definieren die Teilhabe an der Produktion über den Konsum. Vor allem, da mittlerweile das Preissystem Westdeutschlands zu nahezu hundert Prozent in Ostdeutschland eingeführt worden ist, kann die Kaufkraftsicherung nur durch eine schnelle Angleichung der Effektivlöhne erreicht werden. Damit verbessert sich die Entwicklungsperspektive in Ostdeutschland.

Auf der anderen Seite sind bis auf wenige Unternehmen die meisten nicht in der Lage, die Lohnsumme zu finanzieren. Entscheidender Engpaß dabei ist die völlig unzureichende Absatzlage. Sicherlich ist es richtig, daß die Absatzchancen von der Qualität der Produkte und der technologischen Produktivität abhängig sind. Charakteristikum der Transformation der ostdeutschen Unternehmen ist es jedoch, daß durch technologisch moderne Investitionen erst diese Produktivität erreicht werden muß. In der Zwischenphase liegen die Lohnkosten zwangsläufig über der technischen Produktivität. Wenn die Nachfrage allerdings unzureichend ist, dann kann ein noch so produktives Unternehmen die Löhne nicht bezahlen. Das Hauptaugenmerk muß deshalb auf einer Verbesserung der Absatzchancen liegen.

Wenn heute die Lohnsumme auf den Umsatz beziehungsweise die Wertschöpfung von Unternehmen bezogen werden, dann müssen Horrorzahlen zustande kommen, die den Eindruck erwecken, die Löhne würden die ökonomische Entwicklung strangulieren. Dieser Eindruck ist jedoch trügerisch. Selbst durch eine Lohnkostensenkung um dreißig oder vierzig Prozent würde sich die Lage nicht grundlegend verändern. Unternehmen sind großteils nicht in der Lage, die Lohnsumme zu bezahlen, weil ihnen der Absatz fehlt.

Die Verbesserung der Nachfragesituation braucht Zeit. Neue Produkte müssen hergestellt, die alten technologisch verbessert werden.

In der Übergangszeit sind Lohnsubventionen unvermeidbar. Sie schaffen einerseits die vor allem regional bedeutsame Nachfrage und entlasten andererseits die Unternehmen. Damit wird deren Chance in Richtung einer produktivitäts- und absatzsteigernden Sanierung verbessert.

Einige Fakten

Das Tarifniveau Ost lag am 30. Juni 1992 im Vergleich zum Tarifniveau West zwischen vierzig und hundert Prozent. Hier gibt es also enorme Unterschiede. Im Durchschnitt dürfte die Relation zwischen sechzig und siebzig Prozent liegen.

Die effektiven monatlichen Durchschnittseinkommen (brutto) lagen im 1. Quartal 1992 bei nicht mehr als 60,6 Prozent des Westniveaus. Die Spannbreite lag zwischen 44 und knapp 63 Prozent.

Allerdings ist der nominale Bruttolohnanstieg mit 31,6 Prozent vom 1. Halbjahr 1991 bis zu 1. Halbjahr 1992 enorm (Berechnung: DIW-Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung). Indessen stieg die durchschnittliche Arbeitsproduktivität nur um 7,7 Prozent. Die Lohnstückkosten stiegen im selben Zeitraum um nicht weniger als 94,5 Prozent, in Westdeutschland dagegen nur um 8,0 Prozent.

Wie auch immer man die Zahlen drehen und wenden mag: es existiert angesichts unzureichender Nachfrage eine tiefe Kluft zwischen Lohnniveau und Produktivität in Ostdeutschland. Dadurch erleiden die ostdeutschen Unternehmen einen weiteren Wettbewerbsnachteil.

Allerdings muß das Lohnproblem eingegrenzt werden.

Ein Diskussionsvorschlag für selektive Lohnkostensubventionen

Der Wettbewerbsnachteil bezieht sich nur auf die Unternehmen, die überwiegend überregionalem Wettbewerb ausgesetzt sind, als sie preis- und kostenmäßig mit Unternehmen überwiegend aus dem Westen oder dem Ausland konkurrieren, die eine höhere Produktivität haben. Im wesentlichen geht es hier also um Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes sowie der Landwirtschaft.

Notleidenden Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes und der Landwirtschaft sollten Lohnsubventionen, befristet auf zwei bis drei Jahre und degressiv gestaffelt, auf Antrag gewährt werden.

Ein Unternehmen ist „notleidend“, wenn ohne Lohnsubventionen

–eine Stillegung unvermeidbar wäre oder

–eine wesentliche Verminderung der Beschäftigung unvermeidbar wäre.

Notwendige Voraussetzungen für Lohnsubventionen sind:

–Ausgearbeitete Unternehmenskonzepte mit Angaben über das Produktionsprogramm, die Kostenstruktur, die Umsatzentwicklung und die Personalentwicklung: im Falle von Treuhandunternehmen ein genehmigtes Unternehmenskonzept.

–Normalauslastung während der geltenden Arbeitszeit der vorhandenen Belegschaft, auch dann, wenn Kurzarbeit geleistet wird.

–Die Betriebe müssen nachweisen, daß sie bei Ausschöpfung aller Kostensenkungsmöglichkeiten Stückkosten aufweisen, die über den marktüblichen Wettbewerbspreisen liegen. Dieser Tatbestand liegt auch dann vor, wenn die laufenden Kosten für betriebsnotwendige Ausgaben aus den laufenden Erträgen nicht gedeckt werden können und Liquiditätskredite aufgenommen werden müssen.

–Die Antragsteller müssen nachweisen, daß die Beschäftigung nach Ende der Subventionsdauer voraussichtlich dauerhaft weiterexistieren können. Befristete Arbeitsverhältnisse sollen nicht subventioniert werden.

Die Lohnkostensubventionen können im ersten Jahr bis zu dreißig Prozent der Lohn- und Gehaltssumme betragen, im zweiten Jahr bis zu zwanzig Prozent. Bezugsbasis sind die geltenden Tariflöhne. Lohnkostensubventionen können für die gesamte Belegschaft oder für einzelne Teile der Belegschaft beantragt werden.

Die Lohnkostensubventionen sind an Auflagen über die Zahl der während der Subventionsdauer aufrechtzuerhaltenden Arbeitsplätze gekoppelt. Sie sollte nicht an individuelle Arbeitsverhältnisse gekoppelt werden. Im Fall von Lohnkostenunterstützungen für bestimmte Arbeitnehmergruppen durch die Arbeitsverwaltung werden keine zusätzlichen Lohnkostensubventionen gewährt. Die Betriebsräte sind bei der Antragstellung und der laufenden Kontrolle über die Einhaltung der Auflagen einzubeziehen.

Für die Lohnkostensubventionen sind administrativ die Wirtschaftsminister der Länder beziehungsweise die Institutionen der regionalen Wirtschaftsförderung zuständig.

Kosten und Finanzierung: Die Bruttolohn- und Gehaltssumme in Ostdeutschland wird im Jahr 1992 auf zirka 185 Milliarden Mark geschätzt. Bei rund einer Million Arbeitsplätzen im verarbeitenden Gewerbe und einem Durchschnittslohn von 2.000 Mark im Monat dürfte die industrielle Lohn- und Gehaltssumme 1992 bei 25 Milliarden Mark liegen. Mithin würden 1992 die Lohnsubventionen im Maximalfall etwa 7,5 Milliarden Mark ausmachen.

Die Finanzierung erfolgt durch die Bundesregierung. Sie könnte im Rahmen sowie durch Aufstockung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstrukturen“ oder auch unabhängig davon erfolgen. Sie könnte durch verschiedene Instrumente finanziert werden, die von den Gewerkschaften zur sozialverträglichen Finanzierung der deutschen Einheit vorgeschlagen wurden; insbesondere: Ergänzungsabgabe für Besserverdienende, Investitionsabgabe für westdeutsche Unternehmen, die nicht in Ostdeutschland investieren. Arbeitsmarktabgabe für Beamte und Selbständige. Eine Finanzierung durch Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung kommt ebensowenig in Frage wie eine Erhöhung der Massensteuern.

Die Lohnsubventionen sind volkswirtschaftlich überlegen, andernfalls entstehende Kosten der Arbeitslosigkeit und der Deindustrialisierung werden vermieden.

Es sollte streng geprüft werden, ob von der Treuhandanstalt privatisierte Unternehmen in die Lohnkostensubventionierung einbezogen werden sollen. In der Regel wurden den Investoren seitens der Treuhand Kaufpreisnachlässe für Arbeitsplatzzusagen gewährt: hierbei handelt es sich um indirekte Lohnsubventionen.

Neugründungen westlicher Investoren „auf der grünen Wiese“ sollten ebenfalls nicht in die Subventionierung einbezogen werden. In der Regel wird hier in modernste Technologien investiert und damit ein hohes Produktivitätsniveau gewährleistet, auch wenn anfänglich hohe Start- und Anlaufkosten sowie hohe Abschreibungen anfallen. Hier greifen jedoch die Subventionen im Rahmen der Investitionsförderung.

Mögliche Einwände

Zu bürokratisch?

Zweifellos erfordern Lohnsubventionen eine gewisse Bürokratie. Dies gilt aber erst recht hinsichtlich des unüberschaubaren Wildwuchses diverser anderer Kapitalsubventionen. Eine Pauschalierung wie bei der Investitionszulage ist viel problematischer, da hier sehr hohe Mitnahmeeffekte entstehen beziehungsweise entstehen würden. Im übrigen gibt es eine ganze Reihe von Subventionen, die ebenfalls nur durch Einzelfallprüfung gewährt werden: Lohnkostenzuschüsse für Problemgruppen des Arbeitsmarktes; Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen; Investitionszuschüsse in der Regionalförderung; F&E-Subventionen; Forschungsprojektförderung et cetera.

Konservierung alter Strukturen?

Es geht nicht um Erhaltungs-, sondern um Umstrukturierungssubventionen. Daher ist die zeitliche Befristung und die degressive Staffelung wichtig. Betriebe und Arbeitsplätze, die nach Beendigung der Subventionsphase keine Überlebenschance haben, sollten nicht gefördert werden. Die Verbindung von Lohn- und Kapitalsubventionierung zwecks Modernisierung des Kapitalstocks sollte die Strukturkonservierung vermeiden.

Nachfrage- und Marktprobleme bleiben ungelöst

Dieser Einwand ist zutreffend. Lohnsubventionen können selbstverständlich bei wegbrechenden Ost- oder Westmärkten nicht entscheidend helfen. Um jedoch neue Märkte zu suchen oder alte zurückzugewinnen, bedarf es des „Kaufs von Zeit“. Während dieser Umstellungsphase können Verluste aus laufender Geschäftstätigkeit auftreten: diese könnten durch Lohnsubventionen gemindert werden.

Investoren aus dem Westen kalkulieren mittelfristig mit hohen Löhnen

Auch dieser Einwand ist zutreffend. Westliche Investoren sollten auch nicht durch Lohnsubventionen angelockt werden. Sie sind in der Regel in der Lage, die Lohnkosten zu tragen. Die Lohnkostensubventionen sollen der Lösung anderer Probleme dienen.

Gefahr hoher Mitnahmeeffekte?

Mitnahmeeffekte treten vor allem bei der pauschalen Investitionsförderung auf. Durch Einzelbeantragung von Lohnsubventionen und durch deren selektiven Charakter sollten Mitnahmeeffekte weitestgehend vermieden werden.

Wettbewerbsverzerrung?

Lohnsubventionierungen sollen wettbewerbsfähige Industriestrukturen schaffen und damit die Voraussetzungen für Wettbewerb und Chancengleichheit schaffen. Durch die historischen Sonderbedingungen der plötzlichen deutschen Einheit sowie durch die groben Fehler der Einigungspolitik ist es zu Wettbewerbsverzerrungen zugunsten westdeutscher Unternehmen gekommen, die nun wieder wettgemacht werden müssen.

Gefährdung der Tarifautonomie?

Die Tarifverträge und die Autonomie der Tarifvertragsparteien bleiben erhalten. An den vereinbarten Plänen zur Lohnangleichung (Tarifunion) wird im Interesse ökonomischer Stabilität und Glaubwürdigkeit festgehalten. Gesetzliche Öffnungsklauseln werden nicht angewendet.

Rudolf Hickel ist Professor für Finanzwissenschaft in Bremen, Jan Priewe ist Professor für Wirtschaftswissenschaft in Darmstadt.