Utopie einer anderen Liebe

Ein Gespräch mit Gianni Amelio, dem Regisseur von „Gestohlene Kinder“  ■ Von Christiane Peitz

Die Mutter hat die elfjährige Tochter zur Prostitution gezwungen. Wenn der Freier kommt, kriegt der neunjährige Bruder Geld für ein Eis. Schauplatz Mailand, Sozialwohnungselend. Als die Mutter verhaftet wird, muß ein Carabiniere die Kinder in ein Heim nach Civitavecchia bringen. Aber die Heimleitung will das Mädchen nicht, also weiter Richtung Sizilien, ins nächste Heim. Bahnfahrten, Heimflure, billige Gaststätten, häßliche Neubauten, Schlafsäle, verkarstete Landschaft, staubige Straßen. Selbst das Meer wirkt träge und blaß – Italien, gleichgültig. „Gestohlene Kinder“ ist ein wortkarges Roadmovie und die Geschichte einer ungewöhnlichen Beziehung: Rosetta, Luciano, Antonio. Der Beamte, anfangs nur genervt, schließt die Kinder ins Herz. Nach einer Kinostunde sagt Luciano zum Carabiniere seinen ersten Satz: „Wann kommen wir an?“ Antonio weiß keine Antwort. Später erzählen sie sich schmutzige Witze. Gianni Amelio hat jeden Sozialkitsch vermieden und auch den voyeuristischen Blick auf das mißhandelte Mädchen. Die Verstörtheit der Kinder artikuliert sich in ihrem Schweigen, der Film anerkennt ihre Verschlossenheit als notwendigen Schutzraum. Die Bilder bedrängen die Gesichter nicht, befleißigen sich nicht eines forschenden Blicks. Und doch wirkt die einfache Filmsprache, das Dokumentarische, eine Spur zu inszeniert. Der Strähne, die Rosetta in die Stirn fällt, den großen, traurigen Augen des kleinen Luciano gelten ein paar Nahaufnahmen zu viel, und der vorbeirauschende Verkehr signalisiert ein wenig zu deutlich die Gleichgültigkeit der Gesellschaft. Das kurze Idyll am sizilianischen Strand, mit Wasserspielen und elegischem Flötenklang aus dem Off, wird schließlich von der schnöden Wirklichkeit eingeholt: Antonio sieht sich sich dem Vorwurf der Kindesentführung ausgesetzt. „Du sollst nicht denken“, sagt der Vorgesetzte, „du sollst Befehle ausführen.“ Die Kinder sitzen am Straßenrand, und noch einmal rauscht der Verkehr. Amelios Reduktion hat etwas Geschwätziges.

Gianni Amelio: Es gab zwei Dinge, die mich zu diesem Film veranlaßten. Erstens wollte ich die Geschichte eines Carabiniere erzählen; zweitens wollte ich von einer Beziehung erzählen, in der die Utopie einer anderen Liebe, einer anderen Familie aufscheint, einer tiefen menschlichen Beziehung, die selbst im Klima einer gleichgültigen, zynischen und verschlossenen Gesellschaft entstehen kann. Ich bin in Süditalien geboren...

taz: ...wie der Carabiniere Antonio im Film...

...und wie die beiden Kinder. Es sind drei entwurzelte Menschen, die aus konkreten Gründen vom Süden in den Norden verpflanzt wurden. Ich fühle mich den Umständen ihrer Rückkehr in den Süden sehr verbunden. Aber es ist keine nostalgische Reise Richtung Süden, Sonne, Mittelmeer. Es ist eine schmerzliche und beschwerliche Reise, in deren Verlauf wir erfahren, daß Italien überall gleich ist. Nord-, Süd- und Mittelitalien sind aus der gleichen Häßlichkeit gemacht. Der einzige Schutz gegen die Häßlichkeit ist jene Utopie, die Möglichkeit, einander jenseits von alldem zu lieben.

Trägt Antonio, der wie Sie aus Kalabrien stammt, autobiographische Züge?

Der Film ist autobiographisch in den Gefühlen, nicht in der Thematik oder der konkreten Erzählung. Das Autobiographische ist unter die drei Hauptpersonen des Films aufgeteilt. Ich bin ein bißchen Antonio, ein bißchen Luciano und auch ein bißchen Rosetta. Ich denke, Rosetta ist die schönste Persönlichkeit des gesamten Films und die schmerzlichste, denn sie trägt am schwersten an der Bosheit und Gleichgültigkeit der Gesellschaft. Wenn der Film auch kein konkretes Detail aus meinem Leben enthält, gibt es dennoch Dinge, die ich in meinem Innersten genauso empfinde. Vor allem, was Antonio betrifft: ich teile seinen Willen, vor den Übeln Italiens, dem Zynismus nicht zu kapitulieren. Als Carabiniere ist er Teil einer repressiven Institution, und im Verlauf der Geschichte entledigt er sich seiner Uniform, nicht nur körperlich, sondern auch im übertragenen Sinn, seiner uniformen geistigen Verfassung, und handelt gegen seine eigenen Interessen. Er tut etwas zutiefst Subversives, aber ohne sich dessen bewußt zu sein.

Der Film wirkt sehr dokumentarisch. Ist die Einfachheit der Bilder typisch für Amelio oder speziell für diesen Film? Wie haben Sie sie erreicht?

Die Einfachheit der Sprache stellt sich nicht von selbst her, man muß sie erst mühsam erlangen. Es gab eine lange Entwicklung dorthin, eine Entwicklung zur Reife. Für mich ist es ein Anfang, von dem aus ich meine weitere Arbeit angehen will. Mein allererster Film ist diesem hier sehr ähnlich, es war ein Fernsehfilm. Danach machte ich andersgeartete Erfahrungen, vor allem was die Filmsprache angeht, die Inszenierung, die Art der Kamerabewegungen, bei der man wie im klassischen amerikanischen Kino die Hand des Regisseurs deutlich spürt. Diesem Film hier liegt die radikale Entscheidung zugrunde, zu einer essentiellen Filmsprache zurückzukehren, die die genaue Kenntnis, ein intimes Bewußtsein von dem voraussetzt, was man erzählen will. Rossellini hat einmal gesagt: Wenn Du eine Idee hast, an die Du glaubst, zerbrich Dir nicht den Kopf, wie Du sie äußern kannst. Sprich sie aus und basta. Im Kino ist das sehr schwer, denn es ist ja das Reich der Erfindung. Im Kino gibt es keine Einfachheit, wenn man sich nicht um den höchsten Grad der Erfindung bemüht. Wenn also das Publikum den Eindruck hat, der Film sei dokumentarisch, hat der Regisseur besonders raffiniert gefälscht. Wenn man zum Beispiel die beiden Kinder betrachtet, könnte man denken, ihre Darsteller hätten im wirklichen Leben die gleichen Erfahrungen gemacht wie Luciano und Rosetta, und der Regisseur hätte die Realität einfach abfotografiert. Das Gegenteil ist der Fall. Auf dem Festival in Cannes konnte jeder sehen, daß Valentina Scalici eine vollkommen andere Person ist als Rosetta (lacht).

Kinder auf der Leinwand sind besonders präsent, ihre natürliche Unschuld beeindruckt wie von selbst. Wie sind Sie mit diesem Problem, auch der Gefahr des Mißbrauchs umgegangen?

Ich gehe zunächst einmal davon aus, daß ich die Kinder nicht als Schauspieler betrachten darf. Ein Kind, das rezitiert – furchtbar: man denke nur an die Kinder, die an Weihnachten ein Gedicht aufsagen müssen. Zuerst muß man also verhindern, daß sie sich als Schauspieler fühlen, gerade weil sie instinktiv gerne schauspielern. Außerdem lege ich mehr Wert darauf, ein streitbares als ein harmonisches Verhältnis zu ihnen aufzubauen. Konflikte sind wichtiger als Einverständnis. Drittens ist es niemals nötig, daß sie verstehen, was sie machen. Sie brauchen nicht das Geringste über die Geschichte ihrer Figur zu wissen. Man muß sie aus dem Konzept des Films heraushalten und sie vielmehr zu Reaktionen stimulieren, die für die betreffende Szene die richtigen sind.

Das klingt sehr autoritär. Wenn sie nicht wissen, warum sie etwas tun sollen, werden sie ja gerade mißbraucht.

Ja, sicher. Aber meine Zwecke sind nicht gegen die Kinder gerichtet, ich will sie nicht ausbeuten. Die Kinder, die auf diese Weise im Film arbeiten, haben vielmehr die Möglichkeit, die Arbeit am Ende als die zu verlassen, als die sie sie begonnen haben. Ich habe sie nicht zu etwas anderem gemacht.

Ihr Film wird oft mit dem italienischen Neorealismus in Verbindung gebracht. Wie sehen Sie den Unterschied?

In Italien spricht man soviel vom Neorealismus, weil keiner weiß, was das eigentlich war. Selbst in der eigentlichen historischen Phase, die fünf bis sieben Jahre gedauert hat, handelte es sich um eine aus sehr verschiedenen Stilen zusammengesetzte Sache. De Sica, Rossellini, Visconti – um nur drei Namen zu nennen – waren drei vollkommen unterschiedliche Regisseure. Ein Film wie „Die Erde bebt“ (Visconti, 1947) kann nicht mit Filmen wie „Paisa“ oder „Deutschland im Jahre Null“ (Rossellini, 1946/47) in einem Atemzug genannt werden, und „Die Fahrraddiebe“ (de Sica, 1948) sind etwas anderes als „Rom – offene Stadt“ (Rossellini, 1945). Für das italienische Kino bestand damals die Notwendigkeit, eine Epoche zu beschließen, vor allem von einem moralischen Standpunkt aus. Ein System war zu Ende, das zwanzig Jahre lang geherrscht hatte, und dieses System wurde identifiziert mit einem Kino der Übertreibung, einem Theater der Posen und der schönen Schauspieler. Der Krieg hatte ein armes Land hinterlassen, ein Land mit realen Problemen. Das Kino konnte deshalb gar nicht mehr sein, wie es vorher war. Der Neorealismus ist aus der historischen Notwendigkeit entstanden, jeglichen Kontakt mit der Vergangenheit abzubrechen.

Man sagt auch, das Charakteristikum des Neorealismus sei der Blick auf die Armut. Ein Mißverständnis. Der Neorealismus kann nicht über Inhalte definiert werden, sondern nur über eine bestimmte Sichtweise. Im italienischen Kino der letzten Jahre ist etwas ähnliches geschehen: vier oder fünf Regisseure, mehr nicht, haben Geschichten erzählt, die von den aktuellen Problemen handeln, von einem armen Italien...

... Marco Risi zum Beispiel oder Nanni Moretti.

Genau. Aber jeder von uns erzählt vollkommen anders. Trotzdem heißt es jetzt, wir seien die Neo-Neorealisten. Es geht wohl nicht ohne Etikett.

Hat es diese Art von Kino schwer in Italien?

Jede Art von Kino hat es schwer in Italien, meine genauso wie die gegenteilige. Das Kino ist eine seltsame Angelegenheit. Es versucht verzweifelt, so vielen verschiedenen Ansprüchen zu genügen: es ist eine Industrie, eine Kunst, will unterhalten, sich selbst genügen. Und jeder dieser Absichten stehen Hindernisse im Weg.

Außerdem haben wir in Europa seit langer Zeit einen schweren Stand gegenüber den USA. Die USA exportiert nicht nur eine bestimmte Menge von Filmen, sondern auch eine bestimmte Weltanschauung, eine starke, aufdringliche Kultur, einen Geschmack. Die Invasion dieser Kultur vor allem über das Fernsehen korrumpiert und verändert unsere Individualität des Geschmacks. Viele Länder, vor allem Frankreich, haben versucht, diese Invasion mittels Restriktionen einzudämmen und so das nationale Filmschaffen zu stärken. Ich bin nicht gegen das amerikanische Kino, aber ich bin gegen die Unzahl dieser Nebenprodukte, diese Orgie der Fernsehfilme, die den Raum für unsere eigene Arbeit verkleinert. Wenn man sie bremst, kann man die Korruption des Geschmacks und unserer Wahrnehmung verringern.

Natürlich ändert das zunächst nur etwas an der Quantität, nicht an der Qualität. Das grundlegende Problem besteht darin, das Publikum nicht zu korrumpieren. Ein korrumpiertes Publikum wird nie mehr einen schönen Film sehen, denn es wird nicht in der Lage sein, die Schönheit wahrzunehmen. Ein Publikum, das mit falschen Gefühlen gefüttert wird, kann mit wahren Gefühlen gar nichts mehr anfangen. Aber wir brauchen das Publikum, es ist der Sinn jeden Films, einen Zuschauer zu haben. Anders ist er nichts wert, existiert er nicht. Wir müssen das Leben dieses Zuschauers schützen. Wenn wir einen guten Zuschauer haben, können wir auch einen guten Film machen.