■ Fünftägiger Marathon um das Gift aller Gifte/ Die Frage nach einem Grenzwert konnte niemand beantworten/ Auch Tierversuche geben keine endgültigen Antworten auf die Gefährlichkeit/ Nimmt die Belastung in Deutschland wieder ab?
: Supergift Dioxin und die ratlose Wissenschaft

Es war später Nachmittag, als der vielleicht wichtigste Punkt aus dem 41seitigen Fragenkatalog aufgerufen wurde: Wieviel Dioxin darf dem Menschen zugemutet werden? Wie viele billionstel Gramm jener gefährlichsten aller Substanzen auf der Erde sind als tägliche Dosis noch tolerierbar, ohne daß Gesundheitsrisiken entstehen? Doch ausgerechnet bei dieser Gretchenfrage des fünftägigen Berliner Dioxin-Marathons blieben die Wissenschaftler ratlos. Niemand von den 250 Dioxinforschern und Umweltbeamten, der sich im Ostberliner Kongreßzentrum ans Mikrophon gedrängt hätte. Die US-Wissenschaftler erklärten kategorisch, daß sie zu dieser Frage nicht Stellung nehmen wollen. Der Schwede Thomas Ahlborg vertröstete mit der Aussicht, daß die rasanten Fortschritte der Molekularbiologie in zwei Jahren ohnehin eine vollständig neue Risikoabschätzung bringen werden. Für andere Toxikologen war schon die Fragestellung unakzeptabel. „TDI-Werte“ (Tolerable Daily Intake – noch vertretbare Tagesdosis), sagte der Berliner Dioxin-Experte Diether Neubert, „machen keinen Sinn, alle Zahlen sind willkürlich“. Am Ende kam doch noch ein halbherziges Bekenntnis zum bisherigen TDI-Richtwert des Bundesgesundheitsamtes von 1 Picogramm (0,000.000.000.001 Gramm) je Kilogramm Körpergewicht zustande. Damit, so die Toxikologen Neuberth und Schlatter (Zürich), könne man leben.

Die präzisen Vorlagen, die sich nicht nur Bonns Umweltminister Klaus Töpfer von dem Dioxin- Kongreß für die Festlegung neuer Grenzwerte erhofft hatte, blieben aus. Sobald es politisch wurde, wie etwa bei der Frage nach Grenzwerten, Stoffverboten und Sofortmaßnahmen, übten die Wissenschaftler vornehme Zurückhaltung. Die beiden „radikalsten“ Dioxin-Experten, die Toxikologen Otmar Wassermann und Heinrich Menzel, hatte man zu der wissenschaftlichen Anhörung gleich gar nicht eingeladen. Menzel war als Zuhörer gekommen und diskutierte mit, hatte aber nicht dasselbe Rederecht und Gewicht wie die geladenen Anhörungsteilnehmer.

Der wissenschaftliche Streit blieb auf dem Berliner Kongreß auf zwei kurze, aber heftige Dispute beschränkt. Als Initialzündung für eine grundsätzliche Debatte hätte etwa der Schweizer Toxikologe Christian Schlatter Farbe bekennen müssen. Seine zugespitzte These, daß der ganze Kongreß eine „akademische Übung“ sei und der Mythos Dioxin in seiner Bedrohlichkeit weit überbewertet werde, vertrat er aber nur in der Kaffeepause. Und seine Ankündigung, demnächst eine kleine Dosis des Ultragifts zu sich zu nehmen, war wohl eher als Jokus gedacht.

Der große Streit blieb aus, den kleinen Streit löste der Berliner Kinderarzt Hans Helge aus. Er hat eine regelrechte Gier nach neuen Daten beobachtet, welche die Gefährlichkeit der Dioxine belegen sollen. Unter dem Druck der Öffentlichkeit würden in aufwendigen Studien immer mehr Daten angehäuft. Aber: „Viele dieser Studien sagen nichts aus, wenn man sie ernsthaft prüft.“ Ausgehend von den Ergebnissen im Tierversuch werde nach Krankheiten gesucht, die angesichts der niedrigen Dioxin-Dosen beim Menschen in signifikant erhöhter Anzahl „einfach nicht gefunden werden“. Helge kritisierte insbesondere die Hamburger Kindergarten-Studie. Hier sei eine Gesundheitsgefährdung der Kinder – durch ausgasende dioxinhaltige Holzschutzmittel – postuliert worden, ohne die Kinder auch nur ein einziges Mal auf Dioxingehalte im Blut zu untersuchen.

Diether Neubert nahm die zuvor präsentierte epidemiologische Studie seiner amerikanischen Kollegin Marilyn Fingerhut aufs Korn. Sie hatte quer durch die USA mehr als 5.000 Chemiearbeiter untersucht, die im Laufe ihres beruflichen Lebens mit Dioxinen verseucht worden waren. Dabei waren nicht nur auffällig seltene Krebsarten (Weichteilsarkoma), sondern auch eine insgesamt signifikant erhöhte Krebssterblichkeit entdeckt worden. Neuberts Kritik: Die Arbeiter seien nicht nur Dioxin, sondern einer Fülle anderer Chemikalien ausgesetzt worden. Wer könne bei solch einer „Multi- Exposition“ noch auseinanderhalten, welcher Krebs auf welche Chemikalien zurückgeht? Zudem zeigten sich in Tierversuchen mit Dioxin völlig unterschiedliche Symptome. Jeder Forscher suche sich das heraus, was gerade in sein Konzept paßt.

Neuberts Kritik macht die Schwierigkeiten der Dioxin-Forschung klar. Sie basiert weitgehend auf Tierversuchen, die im Ergebnis häufig stark voneinander abweichen. Die tödliche Dosis (LD-50) wird beim extrem empfindlichen Meerschweinchen mit einem millionstel Gramm pro Kilogramm Körpergewicht angegeben. Beim Hamster liegt diese letale Dosis aber um den Faktor 5.000 höher. Der Mensch wird eher der Ratte zugeordnet, die mit zwanzig bis fünfzig millionstel Gramm irgendwo in der Mitte liegt. Doch Ratte ist nicht gleich Ratte: bei Han-Wistar-Ratten ist die akute Toxizität dreihundertmal geringer als bei Long-Evans-Ratten. Bei keiner anderen Substanz sind diese unterschiedlichen Reaktionen derart ausgeprägt.

Tragende Mäuse, denen Dioxin verabreicht wird, bringen Junge mit Nierenschäden und Gaumenspalten zur Welt. Bei Ratten und anderen Tieren konnte dies nicht beobachtet werden, wie Richard Petersen (Wisconsin) berichtete. Bei Kaninchen fielen „überzählige Rippen“ bei den Neugeborenen auf, während Affen keinerlei strukturelle Fehlbildungen zeigen. Hamster, sonst weniger dioxin- sensitiv, hatten bei Dioxin-Exposition eine gegenüber Meerschweinchen deutlich erhöhte fetale Sterberate. Die teratogene, also Mißbildungen verursachende Wirkung von Dioxinen, gilt inzwischen als gesichert. Auch zur immuntoxischen Wirkung wurden zwei Studien vorgelegt. Vor allem aber gelten Dioxine als krebserzeugend, wobei das Ultragift vorrangig als Krebs- Promotor eingestuft wird, also nicht direkt Krebs auslöst, sondern gemeinsam mit anderen Faktoren einen Tumor zum Wachsen bringt. Dabei werden eine Vielzahl von Organen angegriffen. An Leber, Lunge, Niere und Schilddrüse wurden am häufigsten Tumorbildungen beobachtet, weibliche Versuchstiere reagierten häufig empfindlicher.

Neben dem Tierversuch sind die Dioxin-Katastrophen der wichtigste Forschungsgegenstand. Hier zeigt sich, wie Max Zober von der BASF berichtete, oft erst nach Jahrzehnten das ganze Ausmaß der Verseuchung. Bei dem Ludwigshafener Chemiekonzern war 1953 ein Chemiereaktor explodiert, die Krebshäufigkeit unter den damals betroffenen Personen wird noch heute untersucht. Zober wies darauf hin, daß erst nach zwanzigjähriger Latenz eine, dann aber deutliche, Erhöhung der Krebserkrankungen registriert wurde.

Im Kollektiv der Chemie-Arbeiter von Boehringer, die in Hamburg jahrelang schwersten Dioxin- Belastungen ausgesetzt waren, wurde eine Erhöhung der Krebserkrankungen um den Faktor zwei bis drei beobachtet. Hier konnten, wie Dieter Flesch-Janys berichtete, andere Ursachen ausgeschlossen werden, weil weitere Chemikalien aus dem Produktionsprozeß und deren Wirkung bekannt waren, sich aber nicht mit den Krebsbefunden deckten.

Bei Untersuchungen von Anwohnern, die längere Zeit auf dioxinverseuchtem Gelände lebten, zeigten sich bislang überraschend wenig Effekte. Marsberg, Rastatt, Maulach, Rheinfelden, Hamburg, Lengerich heißen die Ortsnamen für bundesdeutsche Dioxin-Skandale. Die Anwohner in solchen Gefahrenzonen zeigten zwar vereinzelt erhöhte Dioxin-Spiegel im Blut, aber Krankheiten und insbesondere Krebsfälle sind bislang nicht gehäuft aufgetreten, wie verschiedene Studien nahelegen.

In Seveso, dem berühmten und berüchtigten Ort der Dioxin-Katastrophe von 1976, seien nach den schweren akuten Krankheiten, an denen vor allem die Kinder litten, bis 1985 keine Langzeitfolgen aufgefallen, sagte Paolo Mocarelli (Mailand), weder eine Krebszunahme noch Mißbildungen bei Kindern. In einer neuen Studie, die seit 1986 läuft, sei allerdings ein leichter Anstieg bei drei Krebserkrankungen (Leber, Weichteilsarkoma, Blutkrebs) festgestellt worden, berichteten seine italienischen Kollegen.

Die gute Nachricht des Berliner Kongresses: Das allgegenwärtige Ultragift wurde bei Muttermilchproben in den vergangenen Jahren in geringeren Konzentrationen nachgewiesen als noch Ende der 80er Jahre. Die Dioxinbelastung in der Bundesrepublik scheint leicht zurückzugehen. „Sie steigt zumindest nicht mehr“, heißt das Fazit des Berliner Umweltbundesamtes, das mit dieser vorsichtigen Sprachregelung nicht in den Verdacht kommen will, voreilig Entwarnung zu blasen. Dazu besteht auch kein Anlaß. Die menschliche Muttermilch ist noch immer so stark mit Dioxinen belastet, daß Kleinkinder während der Stillphase täglich bis zu 100 Picogramm Dioxin je Kilogramm Körpergewicht aufnehmen. Diese gefährlich hohe Dosis liegt nur um den Faktor zehn unter dem „No-Effect-Level“ von 1 Nanogramm. Werden Ratten täglich mit 10 Nanogramm Dioxin gefüttert, bilden sich bereits erste Tumore. Damit ist ein ausreichender Sicherheitsabstand der Dioxinbelastung von Säuglingen zu den niedrigsten krebsauslösenden Dosen im Tierversuch nicht mehr gewährleistet.

Dramatische Veränderungen zeigt der Blick auf die Dioxin-Verursacher. Die Müllverbrennungsanlagen, jahrzehntelang regelrechte Dioxin-Brüter, sollen ihren Ausstoß nach Einführung des neuen Grenzwertes von 0,1 Nanogramm (je Kubikmeter Abluft) um nicht weniger als den Faktor 100 verringern. Der Karlsruher Verbrennungsexperte Hubert Vogg berichtete allerdings, daß gegenwärtig nur „10 bis 20 Prozent der Altanlagen“ den ab Dezember 1996 geltenden Wert unterschreiten. Technisch sei die Einhaltung des neuen Grenzwertes kein Problem. Auch ohne aufwendige Filtertechnik, schon allein mit Verbesserungen im Feuerraum, sei der Sprung unter die 0,1 Nanogramm zu schaffen. Die Frage, warum dann überhaupt bis Ende 1996 gewartet wird, stand nach dieser optimistischen Auskunft Voggs ganz von selbst im Raum. Die Antwort muß der Bonner Umweltminister geben.

Neben den großen gibt es Millionen Kleinst-Müllverbrennungsanlagen: die Haushalte, in denen trotz Verbot häufig Papier- und Verpackungsabfälle verbrannt werden – ohne Filter und Hochtemperaturtechnik und mit entsprechendem Dioxinausstoß. Die Masse macht's, daß diese diffuse Dioxinquelle zunehmend an Bedeutung gewinnt.

Auch ein anderer großer Dioxinverursacher, die Papierindustrie, verseucht die Umwelt inzwischen spürbar weniger. Der in den meisten Betrieben vollzogene Abschied von der Chlorbleiche zeigt Wirkung. Gleichzeitig wird hier aber eine neue Dioxinquelle sichtbar. In der Pulpe (Faserbrei), die beim Recycling aus Altpapier gewonnen wird, fand die finnische Forscherin Mirja Salkinoja-Salonen deutlich erhöhte Dioxinwerte. Sie stammen aus Farbstoffen und Druckertinte. Es sei offenkundig, daß „der Recycling-Prozeß noch gestört ist“, so die Aussage von Hans-Volker Neidhart (Umweltbundesamt).

Die Spitzenstellung beim Dioxinausstoß gehört heute der Stahl- und Metallindustrie. Und hier sind es wiederum die Recyclingprozesse, die besonders dioxinlastig sind. Beim Schmelzen von Sekundärmetallen, bei der Eisen- und Stahlschrottverwertung und in Sinteranlagen wird mehr Dioxin ausgestoßen als in jedem anderen Industriezweig. Der Metallschrott ist häufig mit Chemikalien und Kunststoffen verunreinigt, die beim Einschmelzen freiwerden. Paradebeispiele hierfür sind der Unterbodenschutz von Altautos oder die Kunststoffabfälle im Autoschrott.

Aber auch Farbstoffe und der weit verbreitete Kunststoff PVC geraten in der Dioxin-Diskussion immer stärker unter Druck. Wenn auf dem Berliner Kongreß nach Handlungsbedarf gefragt wurde, fielen regelmäßig diese beiden Stichworte. Jürgen Rochlitz verlangte ein Verbot von PVC zumindest im Verpackungsbereich. Zudem müsse PVC wegen der Brandgefahren in die Störfallverordnung aufgenommen werden. Auch die von den Grünen vorgeschlagene Chlorsteuer auf mehrfach chlorierte und damit dioxinrelevante Produkte brachte Rochlitz nochmals in die Diskussion. Daß in Sachen Dioxin mühelos weitere Forschergenerationen verschlissen werden können, wurde ebenfalls deutlich. Forschungsbedarf besteht unter anderem beim bislang rätselhaften „Jahresgang“ der Dioxine, die in den Wintermonaten November und Dezember die höchsten Konzentrationen erreichen und ab Januar wieder abnehmen. Mit der Heizungsperiode allein läßt sich dieser Befund nicht erklären. Sorgen bereitet außerdem die Differenz zwischen den in Schneeproben gemessenen Dioxinbelastungen und den rechnerisch aus den bekannten Dioxinquellen ermittelten Emissionen. In Schweden ist der reale Dioxineintrag zehnmal so groß wie er rein rechnerisch sein dürfte. -man-